Es ist schon eine Weile her, dass ich auf diesem Blog etwas veröffentlicht habe. Nun ja, wenn man von vergangenen Arbeiten einmal absieht, aber jetzt hatte ich die Gelegenheit, etwas aktuelles, etwas Neues zu schaffen.
Hintergrund dieser Arbeit war eine Ausschreibung des Hybrid-Verlages über das Thema „Mensch 2.0“, die Frage wie man sich die zukünftige Gesellschaft oder den zukünftigen Menschen vorstellt. An dieser Frage zu arbeiten hat mir viel Freude bereitet, mir viel zum Nachdenken gegeben und auch wenn ich es nicht in die Anthologie des Verlages geschafft habe, denke ich dass ich einige Erfahrungen habe sammeln können, die sich vielleicht später einmal auszahlen werden.
Und auch wenn das jetzt vielleicht ein wenig kitschig oder hochmütig rüber kommt, möchte ich gern eine kleine Danksagung an meine Verlobte für die Frage nach Menschlichkeit, an meinen Dozenten für Jüdische Kulturgeschichte für die Frage nach dem Morgen und an meine Kritiker, Korrekteure und Betaleser aussprechen. Ich denke nur durch euch wurde Cyan zu dem, was sie ist.
Oh und noch was: Wenn ihr wissen wollt, wer Mutter ist: Wartet auf die nächsten Teile 😉
Es war Nacht. Zumindest wurde dieser Fakt von den Chronodaten in den unteren linken Ecken der großen und grellen Leuchtreklame-Tafeln vermittelt, die neben den flackernden und immer öfter ausfallenden Neon-Leuchtelementen die einzigen Lichtquellen in den mittleren und unteren Ebenen der Stadt darstellten.
Die Sonne, der Mond oder die echten Sterne konnten nur ganz selten in kleinen schmalen Schlitzen zwischen den Häuserschluchten hindurch beobachtet werden und selbst dann benötigte man Glück. Denn sehr oft war es so, dass „die da oben“ wieder irgendein lichtintensives Spektakel verursachten, das so grell war, dass es die Sterne verschluckte.
Und doch schaute sie immer wieder nach oben, wenn sie eine solche schmale Spalte zwischen den Schluchten entdeckte. Sie brauchte keine Finsternis. Zumindest nicht wirklich. Lediglich mehrmaliges Blinzeln, bis sich die Okulare ihrer künstlichen Augen darauf eingestellt hatten, sämtliches Licht bis auf das der Sterne heraus zu filtern.
Es waren gute Augen. Zumindest glaubte sie das, wenn sie den Gesprächen der Arbeiter lauschte, wenn diese sich über ihre Implantate unterhielten. Und meistens fluchten sie, beschwerten sich, dass ihre mechanischen Glieder nicht das taten, was sie sollten, ihre Implantate juckten und Schmerzen verursachten. Und dann fluchten sie über „die da oben“, jene Menschen – jene Wesen, die sich das Beste vom Besten kaufen konnten, die sich keinen Arm abnehmen und gegen eine mechanische Prothese ersetzen mussten, um einen Job zu finden oder in ihrem Job bleiben zu können. Weil der Arbeitsplatz drohte, von einer Maschine ersetzt zu werden. Man also durch eigene mechanische Verbesserungen konkurrenzfähig bleiben musste. Aber was gab man dafür auf? Mehr als nur einen Arm? Ein Bein? Die Augen?
Und jedes Mal, wenn sie diesen Gesprächen zuhörte, schaute sie auf ihre Hände, die in schwarzen abgegriffenen Handschuhen stecken und die ebenso wie ihre restliche schmuddelige Kleidung den türkisfarbenen Overall verbergen sollten, den sie darunter trug, seit sie denken konnte. Es waren gute Hände, es waren natürliche Hände, keine Maschinen-Hände. Aber sie waren stark wie Maschinenhände, ebenso wie ihre Beine, Füße, Arme. Sie sahen nur nicht so aus. Sie waren weich, bluteten, wenn man sie schnitt.
Aber dann waren da andere Dinge. Wie ihre strahlend blauen Augen. Die ganz leise surrten, wenn sie versuchte, sich auf etwas zu konzentrieren, es fokussierte. Und wenn sie sich bewegte, meinte sie auch stets, ein leises Surren zu vernehmen. Aber sie war nicht wie die Arbeiter, die Bewohner der mittleren und unteren Ebenen.
Sie war nie an der Oberfläche gewesen, hörte immer nur Geschichten, sah die Menschen um sich herum, sah ihre Probleme und die klobigen und teilweise auch unmenschlichen Prothesen, die sie trugen – tragen mussten, um eben nicht obdachlos zu werden.
Aber sie selbst passte nicht hierher. Schien aber auch nicht nach da oben zu passen, wenn sie genauer darüber nachdachte. Und dann, jedes Mal, musste sie an die Worte von Vater denken: „Du bist etwas besonderes. Geh hinaus, lerne die Lektionen, die die Welt dich lehrt, werde ein besserer Mensch. Und komme erst wieder, wenn du alles gelernt hast oder verletzt bist.“
Und Mutter? Mutter hatte geschwiegen. So wie sie es immer getan hatte. Aber sie war immer für Sie da gewesen. Wenn sie verletzt und müde war, hatte Mutter sie immer in ihre rote Umarmung genommen, sie immer beschützt und gewärmt, bis es ihr besser gegangen war. Und sie gehen konnte, um weitere Lektionen zu lernen.
Eine dieser Lektionen war die Wahl eines Namens gewesen. Vater hatte ihr keinen gegeben, er hatte ihr gesagt, sie solle selbst den für sich passenden wählen. Doch was war der für sie passende gewesen? Was war überhaupt ein Name. Sie hatte vier Tage gebraucht, zwei davon hatte sie mit Grübeleien verbracht, während sie durch die Slums gezogen war und versucht hatte, für sich zu ergründen, was ein Name war, was er bedeutete, während sie die Eindrücke, die von allen Seiten auf sie einprasselten, versuchte zu verarbeiten. Dankenswerterweise hatte man sie in Ruhe gelassen, hatte sie nicht bedrängt. In ihrer Kleidung wirkte sie auch einfach zu mager und sie beglückwünschte sich für ihren Einfall, ihren auffälligen türkisfarbenen Overall mit den Anschlüssen und Datenübermittlungs-Leuchtelementen unter schmuddeliger Kleidung zu verbergen. Das war in der Tat ihre erste Lektion gewesen: Falle nicht auf, wenn du nicht auffallen willst. Und sie hatte es nicht gewollt und hatte sich dann nach Alternativen umgesehen, hatte die Menschen beobachtet und daraus Rückschlüsse gezogen, die ihr niemand erklären musste. Sie verstand sie von selbst: Gliedere dich ein, falle nicht auf. So passiert dir nichts.
Erst am dritten Tag hatte sie mit ihrer Suche nach einem Namen weiter gemacht und hatte es fertig gebracht, einer Gruppe schmuddeliger Kinder aufzufallen, als sie eine Taube, die vor ihr auf dem Weg herum lief und etwas vom Boden aufpickte und noch nicht als Bestandteil der Suppe eines Straßen-Imbisses gelandet war, fragte was sie für einen Namen hätte.
Es musste wohl sehr komisch ausgesehen haben, wie das Mädchen mit den strahlend blauen Augen und den nachlässig zusammen gebundenen brauen Haaren vor einer Taube stand und auf sie einredete. Die Kinder hatten sie ausgelacht, doch ihr hatte das nichts ausgemacht… geschweige denn, dass sie es verstanden hätte, aber sie hörte zu. So wie sie immer zuhörte und ihr ging ein grundlegendes Licht auf: Ein Name unterschied jemanden von jemand anderen, er grenzte einen ab, machte ihn einzigartig. Sie hatte das gelernt, als sie den Kindern zugehört hatte, wie diese sich mit Worten ansprachen, die im Kontext keinen Sinn ergaben. Worte, die sie noch nie zuvor gehört hatte und Vater hatte Wert darauf gelegt, dass sie über einen breiten Sprachschatz verfügte. Und dann war es ihr klar geworden: Es waren keine Wörter im semantischen Sinne! Diese Worte waren Namen – auch wenn sie sich fragte, was Stinker bitte für ein Name sein sollte.
Aber damit war sie ihrem Ziel einen Schritt näher gekommen, hatte einen – in ihren Augen – elementaren Teil des Namens begriffen. Und dann begann das Grübeln.
Es dauerte noch einen weiteren Tag, an dem sie über die Lektion von Vater nachdachte und darüber, was sie bisher heraus gefunden hatte. Und dann entschied sie. Es würde zu ihr passen und es definierte sie. Sie fühlte sich damit wohl. So ging sie zurück zu Vater, über den Schlackeberg bei den Stahlwerken, über die Müllhalden in der Südlichen Ausdehnung, weit abseits der sich in den Himmel empor reckenden Häuserschluchten. Und dann zu dem Eingang, von dem Vater gesagt hatte, sie solle ihn verwenden, wenn sie heim wollte. Komischerweise hatte sie das Gefühl, dass sie den Weg wieder in Richtung der Slums zurück ging, sie hatte nur keine Möglichkeit, sich zu orientieren. Überall – Links, rechts, oben, unten – war nur dieser lange Korridor mit dem Gitterboden, den Rohren an den Wänden und den Leuchtelementen an der Decke.
Und dann stand sie vor der schweren, mit Hydraulik und Panzerung gesicherten Tür, klopfte. Es dauerte eine Weile, bis sie aufschwang. Vater stand vor ihr, Mutter war nirgends zu sehen, doch das Mädchen konnte sie riechen… ihren süßen Duft, der von irgendwo hinter Vater kam und gerne wäre sie zu ihr geeilt, hätte Mutter gerne begrüßt, doch Vater stand vor ihr, die Arme verschränkt, die grauen Strähnen in seinem Bart waren mehr geworden und er schaute auf das Mädchen hinab, wie sie abgerissen und schmuddelig vor ihm stand, nur ohne passende Schuhe, die elastischen Sohlen ihres Anzuges erschienen ihr nach wie vor als die besten Schuhe, die man haben kann.
„Nun?“, hatte er gefragt und sie hatte die Jacke geöffnet, ihr Hemd nach unten geschoben und auf das Türkis auf ihrem Overall gezeigt. Vater hatte die Stirn gerunzelt. „Du hattest eine Aufgabe, Kind. Du solltest eine Lektion lernen.“ Das Mädchen blieb eisern, nickte. „Ich habe die Lektion gelernt, Vater. Und ich habe gewählt.“ Sie zeigte wieder auf das Türkis, sah ihn fest an und ihre Augen surrten ganz ganz leise, als sie ihn mit ihrem strahlend blauen Blick fixierte.
Vater verstand nicht sofort. Erst nach und nach breitete sich auf seinem Gesicht verstehen aus und er nickte dann. „Also schön. Dann soll dein Name also Cyan lauten.“ Er lächelte, kurz, knapp. Aber es reichte, um Cyan zu zeigen, dass sie ihn zufrieden gestellt, dass sie ihn stolz gemacht hatte. Und sie erwiderte sein Lächeln, verlor es aber rasch, als sie seine nächsten Worte hörte: „Nun geh los und lerne eine weitere Lektion: Lerne Menschlichkeit, Cyan. Komme nur wieder, wenn du verletzt bist.“ Und damit schloss sich die dicke Panzertür vor Cyan mit einem Zischen und sie stand erneut vor einer Aufgabe, einer Mauer.
Lerne Menschlichkeit. Diese Aufgabe beschäftigte Cyan nun bereits sehr sehr lange. Bereits seit mehreren Monaten streifte sie durch die unteren Ebenen der großen Stadt, beobachtete die Menschen und versuchte zu verstehen, was die Aufgabe Vaters bedeutete.
Cyan hatte begonnen zu begreifen, dass die Menschen, die sie umgaben, nicht wie sie waren. Nicht wie Vater waren. Allein ihr Äußeres, ihre Augmentationen, kybernetischen Implantate waren anders. Und erneut fragte sich Cyan, ob sie so war, wie diese Menschen. Oder war sie ein Mensch und die anderen waren es nicht? Diese Fragen verwirrten sie, bereiteten ihr Kopfschmerzen und schienen das Ziel, das Lösen der Aufgabe Vaters, in immer weitere Ferne rücken zu lassen.
Also beobachtete sie die Menschen weiter, versuchte von ihnen zu lernen, das Miteinander zu verstehen. Aber es gab da nicht viel zu verstehen. Hier unten in den Slums galt das Recht des Stärkeren. Man nahm, was man brauchte, hortete es und wer nichts hatte, der wurde von jenen unterdrückt, die genug hatten, um andere dafür anzuheuern, andere auszurauben.
Aber auch hier gab es Unterschiede: Wer Implantate, Prothesen oder Augmentationen besaß, hatte bessere Chancen. Auf einen Job, einen Platz in einer der Banden, die Chance Geld zu verdienen. Und dann gab es jene Menschen, die nichts davon hatten, die „Naturals“. Sie konnten sich keine Verbesserungen leisten, wollten sich dafür nicht verschulden oder taten es aus moralisch-religiösen Gründen nicht, wie Cyan einmal einen von ihnen sagen hörte. Sie waren der Bodensatz vom Bodensatz. Wie die anderen waren sie von „denen da oben“ weggeworfen und hier herunter getrieben worden, damit sie litten, sich selbst aufgaben, selbst verbesserten, um arbeiten zu können.
Aber wer „die da oben“ waren, wusste Cyan nicht. Für sie hatten diese Wesen schon fast etwas mystisches, fast wie Götter… grausame Götter, von denen die Bewohner der Slums voller Angst und Abscheu sprachen. Aber wenn Cyan hier unten nicht lernen konnte, was Menschlichkeit war, konnte sie es dann da oben? Dort, wo das Licht war?
Aber was war ihre Aufgabe? Sollte sie lernen, was es hieß, menschlich zu sein? Oder ein Mensch zu sein? Was war Menschlichkeit? Was davon? Welcher Aspekt? Welcher Kern? Sie zerbrach sich den Kopf darüber, doch musste diese Gedanken alsbald auf die Seite schieben. Denn selbst wenn sie auf ihre Fragen eine Antwort gehabt hätte: Hier unten konnte sie nichts mehr lernen.
Der Aufstieg in die Oberstadt war für die Bewohner der Slums per se nicht verboten. Es wagte sich nur keiner dort hinauf. Das helle Licht dort oben schmerzte in den Augen, die lediglich an das Halbdunkel der Slums, die flackernden Leuchtelemente und die Neon-Reklametafeln gewöhnt waren. Und Cyan hatte bisher nie den Wunsch verspürt, den Aufstieg durch die Ebenen – von Aufzug zu Aufzug durch jede Ebene zu wandeln – zu machen. Wozu auch? Dort oben hatte es nichts für sie gegeben, zumindest hatte sie so empfunden. Doch jetzt hatte sie ein festes Anliegen, einen Plan, ein Ziel.
Je weiter nach oben sie kam und je niedriger die Zahl-Namen der Stockwerke wurden, desto sauberer, heller und freundlicher wurde alles um sie herum. Natürlich war es vermutlich nichts im Vergleich zu der Oberfläche, aber ein ungutes Gefühl beschlich die junge Frau bereits jetzt, wie sie in ihren schmuddeligen Kleidern gemustert, teilweise sogar angegafft wurde, wenn sie sich nicht in der Menge bewegte, für das Auge verschwamm und ein Teil der grauen Masse wurde.
Doch auch jemandem, der über so viele Dinge nichts wusste, wie Cyan wurde klar, dass sie sich wohl oder übel neue Kleidung besorgen musste, wenn sie dort oben nicht auffallen wollte. Daher entschied sie sich dafür, einen anderen Weg einzuschlagen und sich erst einmal mit diesem Problem auseinander zu setzen. Letztendlich würde es hoffentlich genauso laufen, wie in den Slums, als sie versucht hatte, ihren auffälligen türkisfarbenen Anzug mit den schwarzen Elementen, Anschlüssen und den Datenübermittlungs-Leuchtelementen zu verbergen. In der Theorie zumindest. In den Slums gab es so gut wie keine Sicherheitskräfte, wenn man mal von den Schlägern aus den Banden absah, die über ihr Territorium eifersüchtig wachten und fast schon auf eine sehr makabere und zynische Art und Weise eine Art Bürgerwehr darstellten – eine ständig betrunkene oder von Drogen benebelte und einem alles abpressende Bürgerwehr.
Aber hier gab es welche und mit strengem Blick patrouillierten sie zu zweit die Straßen entlang und allein durch ihre Präsenz schienen die Menschen von Ebene zu Ebene, die Cyan nach oben reiste, gelöster – zumindest kam es ihr so vor, aber ihre Beobachtungen zeigten noch etwas anderes.
Die Augmentationen und Verbesserungen wurden… ästhetischer und wirkten längst nicht mehr so klobig und krude wie ganz unten. Auch schienen sie besser gearbeitet zu sein und für „hochwertigere“ Arbeiten als einer Zehn-Stunden-Schicht in einem Stahlwerk gemacht worden zu sein.
Und noch etwas ging Cyan auf. Es war ab dem Moment, als sie die zehnte Ebene unter der Oberfläche erreichte. Sie konnte sich auch täuschen, doch die Menschen hier begannen, gesünder zu wirken. Die Augmentationen wurden weniger, viel mehr musste man bei manchen genauer hin sehen, um sie noch zu erkennen. Aber die Andersartigkeit lag woanders. Es war dieses „Gesund wirken“, dass die Menschen schon fast von innen heraus strahlen ließ. Und hier und da sah Cyan auch Menschen, die im wahrsten Sinne des Wortes schöner waren als andere, aber auch welche, die vollkommen andersartig erschienen. Viel zu grazil für einen Menschen – zumindest wenn man die Maßstäbe aus den Slums ansetzte. Was war hier anders als da unten?
Sie hatte tausend Fragen, aber alle mussten zurück stehen, bis sie sich neue Kleidung besorgt hatte. Schließlich erhielt sie ihre Gelegenheit, als zwei Bewohnerinnen der Ebene aus einem Geschäft traten und sehr ausführlich miteinander plauderten, sodass sie ihre Umgebung gar nicht wahrnahmen – zumindest nicht richtig. Sie hatten große Tüten dabei und aus mehreren davon ragten – bingo! – Kleidung! Cyan brauchte mehrere Anläufe, bis sie sich ein Herz fasste, ihrem Körper so weit vertraute, dass er sie ein weiteres Mal mit seiner… Andersartigkeit ans Ziel führen würde und begann, sich ein paar Sachen zu stibitzen. Nun ja, leihen. Sie lieh sie sich, wir wollen fair bleiben, immerhin nahm sich die junge Frau fest vor, die Kleidung zurück zu geben.
In einer Seitenstraße, in der sie niemandem auffiel, zog sie sich rasch um, schälte sich aus den alten Klamotten und schlüpfte in die neuen. Sie waren luftiger, besser gearbeitet und ein bisschen schäbig kam sich Cyan ja doch vor, als sie auf ihre alten Kleider und die Handschuhe, die sie noch immer trug, schaute. Sorgfältig verbarg sie ihre alte Kleidung in der Gasse, bevor sie sich wieder auf den Weg machte.
Unterwegs stahl sie sich noch rasch in einem Café auf die Toilette, um sich das Gesicht zu waschen und ihre Haare zu ordnen. Nun fühlte sie sich bereit, den Gang an die Oberfläche zu wagen und je länger sie sich im Spiegel über dem Waschbecken betrachtete, desto mehr… gefiel sie sich. Sie fragte sich, was Mutter wohl sagen würde, wenn sie ihr Kind so sehen würde. Aber vermutlich würde Mutter nichts sagen. Wie immer. Aber Cyan durch eine warme rote Umarmung zu verstehen geben, dass sie stolz war. Stolz auf Cyan und stolz auf das, was das Mädchen erreicht hatte.
Den Moment, als Cyan zum ersten Mal in ihrem Leben die Sonne sah, würde sie niemals vergessen. Zuerst war alles grell, als sie aus dem letzten Aufzug stieg, der am Rand einer großen Promenade in der Wand eines Gebäudes eingelassen war.
Sie musste die Augen zusammen kneifen und die Okulare ihrer Augen surrten hektisch, um sich auf die ungewohnten Lichtverhältnisse einzustellen, während ihre Besitzerin die Augen mit der Hand gegen die Sonne abschirmte.
Doch dann klärte sich ihre Sicht und es war, als wenn sie in den Himmel eingetreten wäre, von dem unten in den Slums die religiösen Naturals erzählten: Ausgedehnte Parks mit allerlei Grünflächen, Bäumen, weißen Statuen und langen Alleen bestimmten das Bild der Oberfläche, zwischen den anmutig erbauten Hochhäusern schwirrten Gleiter umher wie Bienen um einen Bienenstock, während auf den mit weißem Marmor ausgelegten Straßen Menschen in hellen und vor allem exotischen Kleidern herum spazierten.
Der Himmel war blau, beinahe so blau wie Cyans Augen, nur vereinzelt hingen weiße Fetzen wie ausgerupfte Slumtauben Federn dort oben. Waren das Wolken? Sie kannte so etwas nur aus Erzählungen, so wie vieles, was sie wusste. Vater hatte ihr nur Lehraufträge gegeben und nie erzählt. Und Mutter? Mutter hatte geschwiegen und sie einfach nur umarmt.
Es war wie eine andere Welt in der Cyan sich nun langsam begann zu bewegen. Selbst der Boden unter den elastischen Sohlen ihres Anzugs fühlte sich anders für sie an, es fehlten die Unebenheiten von Dreck und Schlaglöchern der unteren Ebenen und der Slums. Natürlich waren die oberen Ebenen ebenfalls sehr gepflegt, aber das hier… es schien, als wenn man hier selbst vom Boden essen könnte, doch Cyan hatte so das Gefühl, dass man dies besser nicht tun sollte.
Stattdessen ging sie eine der langen Alleen entlang, schaute sich mit offenem Mund um, nahm die Eindrücke auf, die wie Regentropfen auf sie einprasselten, saugte sie förmlich auf wie ein Schwamm, begann wieder mit dem, was sie am besten konnte: Die Menschen um sich herum zu beobachten.
Die Andersartigkeit, die ihr bereits in den oberen Ebenen aufgefallen war, konnte sie hier noch viel häufiger und teilweise extremer ausgeprägt feststellen. Der Gipfel dessen war eine Frau, die in einem lachsfarbenen Kleid an ihr vorbei ging, die Haare hochgesteckt, sodass man ihre fast schon gemeißelten Gesichtszüge sehr wohl sehen konnte. Und Cyan, die eigentlich über sehr gute Augen verfügte, musste zweimal hinschauen, da sie nicht glauben konnte, dass diese Frau wirklich spitze Ohren hatte. Es war viel zu unwirklich, um wahr zu sein, doch je weiter sie sich an der Oberfläche fort bewegte, desto häufiger traf sie auf derartige… Veränderungen. Jedoch nicht zwangsläufig so, wie sie es bei der Frau gesehen hatte.
Sie ging an einem Mann vorbei, der an einem weißen Kasten saß, der wie der Flügel einer Slum-Taube geformt war und entlockte diesem irgendwie Töne, wenn er Tasten drückte. Sie beobachtete ihn eine Weile, die Töne klangen nämlich schön – so schienen es auch andere Passanten zu empfinden, die ihm ebenfalls lauschten. Doch was sie irritierte an ihm, konnte sie nicht sagen. Erst als sie sich einen Handschuh abzog und die Glieder ihrer Finger zählte, zu dem Spieler hin sah und seine Finger angestrengt fokussierte: Er hatte an jedem Finger ein Glied mehr!
Irritiert schob sie den Handschuh wieder über ihre Finger, schüttelte den Kopf, ging weiter. Andere Veränderungen an den Menschen konnte sie nicht in Worte fassen, da ihr die Begriffe fehlten, um es angemessen zu beschreiben. Aber niemals sah sie Augmentationen, kybernetische Verbesserungen oder Prothesen!
Und auch als sie die Werbetafeln, die hier an Gebäuden hingen oder in der Luft schwebten und nahezu durchweg schöne Menschen oder Menschen mit diesen… Andersartigkeiten zeigten, sah sie niemals Werbung für Augmentationen, sondern lediglich Dinge wie Splicing, DNA und… Genetik. Sie kannte das Wort nicht, hatte es nie zu vor gehört, aber offenbar war das die Art der Oberflächenbewohner, sich zu verbessern.
Aber warum nur sie? Warum nicht die Bewohner in den Slums? Cyan zerbrach sich den Kopf darüber, setzte sich auf eine Parkbank. Ihr fiel keine Antwort ein und sie verfiel ins Grübeln, während sie die Passanten beobachtete.
In der Nähe saß ein älterer Mann, abgerissen in zerschlissener Kleidung. Der linke Arm war eine Prothese und offensichtlich bettelte er um Geld. Sie beobachtete ihn eine Weile und auch die Menschen, die an ihm vorbei gingen. Die meisten ignorierten ihn, einige sahen ihn abfällig an. Ein paar wenige spuckten vor ihm auf den Boden und murmelten etwas, bevor sie weiter gingen. Cyan wechselte ihre Bank, arbeitete sich Stück für Stück zu den Mann vor, bis sie fast neben ihm saß und jetzt auch hören konnte, was die Menschen sagten. Worte wie „Dreckiger Mecha!“ „Verseuch‘ nicht die Oberfläche!“ „Ab in die Slums zu deinesgleichen, wo du Arbeiterabschaum hingehörst!“ drangen an ihr Ohr.
Die junge Frau musste es erst verarbeiten, musste darüber nachdenken, was die Menschen hier oben meinten. Offenbar war diese Genetik die Art, wie sie sich verbesserten und scheinbar war sie sehr teuer. Und offenbar wollten sie ihre schöne Welt, auf die Cyan fast neidisch war, für sich behalten, wollten jene mit mechanischen Augmentationen, Kybernetik und Augmentationen nicht hier haben, wo der Sinn für Ästhetik über allem stand… wo die Hässlichkeit der Maschinen kein Platz hatte und wo Menschen nicht gleich Menschen waren.
Bedeutete es das, ein Mensch zu sein? Sich von anderen abzuheben, sich abzugrenzen, Mauern zu errichten und andere auszusperren, damit man seinen fragwürdigen Reichtum und die Schönheit für sich beanspruchen konnte? Cyan schaute nachdenklich auf ihre Hände, leise surrten ihre Okulare, als sie ihre Finger fixierte, sich darauf konzentrierte. Und was war sie? Wer oder was war Cyan? Auch sie war mechanisch, das wusste sie… aber sie war nicht so mechanisch wie die anderen, auch nicht so, wie die Bewohner der oberen Ebenen. Sie hatte Haut, sie blutete, sie konnte denken, aber war auch keine Maschine, da war sie sich sicher.
Die junge Frau ballte ihre Hände zu Fäusten, leise surrten ihre Gelenke. Das war falsch, das war… nicht menschlich. Es war eine Spezies, nicht zwei, keine besser oder schlechter als die andere. Ihr Blick wanderte zu dem Bettler und sie stand langsam auf.
Dabei bewegte sie sich ruckartig und etwas klimperte in ihrer Hosentasche. Nanu? Sie hielt inne, schob eine Hand in besagte Tasche und tastete. Creditchips… wie waren die denn da rein gekommen? Dann erinnerte sie sich dunkel, dass lediglich das von ihr geliehene Oberteil einen Zettel an sich dran gehabt hatte und es damit wohl als neu auswies. Die Hose nicht. Vermutlich hatte die ehemalige Besitzerin gleich ihre neueste Errungenschaft angezogen und ihre alte Hose in die Tüte gestopft. Cyan tat es nicht leid… überhaupt tat es ihr nicht mehr leid, dass sie die Kleidung gestohlen hatte. Denn das hatte sie. Nicht geliehen. Sie würde sie auch nicht zurück bringen.
Cyan ekelte sich regelrecht davor, an den Gedanken, auch ein Mensch zu sein. Ihre Finger schlossen sich um um die Credits und sie ging gut sichtbar auf den Bettler zu. Mehrere Passanten blieben kurz stehen, als sie vor dem Mecha, wie ihn die anderen Menschen genannt hatten, in die Hocke ging und ihm die glänzenden Münzen in die mechanische Hand legte.
Verblüfft sah er sie an, dann auf die Credits und dann wieder zu Cyan. Und dann hörte er es surren, als ihre Augen sich auf ihn einstellten. „Du bist keine von denen“, sagte der Bettler leise und Cyan zog die Nase hoch. „Nein.“ Er lächelte matt. „Das ist… sehr menschlich von dir. Danke, junge Dame. Ich danke dir.“ Sie nickte, erwiderte sein Lächeln. Es war das erste Mal, dass Cyan in ihrem Leben lächelte. „Ich habe es… gern gemacht. Glaube ich.“ Sie zuckte mit den Schultern und stand auf. „Ich muss dir auch danken“, sagte sie schließlich, griff sich an den Hinterkopf und schob das Band, mit dem sie ihre Haare zusammen gebunden hatte, wieder in Position. „Du hast mich eine wichtige Lektion gelehrt. Ich hoffe, es gibt mehr… menschliche Wesen.“ Ein letztes Mal lächelte sie, dann ging sie, verschwand in der Menge.
Fast schon donnernd fuhr die geballte Faust auf das Schott nieder. Einmal, zweimal, dann dreimal. Als sie die Hand zum vierten Mal heben wollte, um auf die Tür einzuschlagen, glitt diese mit dem gewohnten Zischen auf und Vater stand vor ihr. Ernst, würdevoll und erhaben wie ein Lehrer. Nicht wie ein Vater, der seine zurück gekehrte Tochter in Empfang nahm.
„Nun?“, fragte er, versperrte mit seinem Körper den Eingang. Cyan wollte ihn nicht sehen, sie wollte zu Mutter, aber Mutter war nicht da. Mutter war nie da, auch wenn der rote Schein, den sie weit hinter Vater wahrnehmen konnte, auf ihre Anwesenheit hindeutete. Aber sie würde heute nicht zu Mutter gehen. Sie sah zu ihm auf, ihn ihren blauen Augen, auch wenn sie nicht aus Fleisch und Blut waren, schimmerte Trotz und Abneigung. „Ich habe die Lektion gelernt.“
Er lächelte. Vater lächelte und es hätte schön sein sollen, doch Cyan empfand es als abstoßend und widerwärtig. „Schön!“, freute er sich, klatschte in die Hände. „Du bist auf dem besten Weg, mein Kind. Du bist fast soweit, du bist auf dem besten Wege, der neue Mensch, der Homo novus, der Mensch 2.0 zu werden! Nicht mehr viel und-“
„Nein!“, fuhr Cyan ihm dazwischen, machte mit ihrer Hand, ihrem Arm, eine wischende Handbewegung. „Ich habe gelernt, was Menschlichkeit bedeutet, Vater. Ich lehne es ab! Es widert mich an. Die Menschen sind ein Volk, doch sie trennen sich voneinander, sperren einander aus dem Reichtum aus, den sie haben, während andere in Armut leben, selbst ihre Menschheit aufgeben, um jenen die die Mauer errichtet haben, noch mehr Reichtum zu kommen zu lassen! Das ist Menschlichkeit! Und wenn es das bedeutet, ein Mensch zu sein, dann lehne ich es ab!“ Trotzig sah die Schöpfung den Schöpfer an, der eine brave Tochter, eine folgsame junge Frau erwartet hatte.
„Ich erwarte nicht, dass du es verstehst, Vater. Du bist keiner von denen, die unten sind. Du bist kein… Mecha. Aber ich glaube auch nicht, dass du ein Natural bist. Du glaubst, es besser zu machen. Aber du bist genauso ein Mensch wie die, die ich gelernt habe, zu verabscheuen.“
Sie wandte sich ab, blieb halb in der Drehung stehen, sah ihren Vater an. Sie wollte zu Mutter… aber Mutter war hinter Vater, Cyan hätte an ihm vorbei gemusst… Der Abschied würde warten müssen. „Menschlichkeit ist es, einander zu helfen. Und erst wenn der Mensch das weiß, will ich ein Mensch sein. Bis dahin bin ich, was ich bin. Ich bin Cyan und ich habe meine Lektion in Menschlichkeit gelernt.“
Sie drehte sich um und ging, den Korridor entlang, blickte nicht zurück und verschwand in Richtung der Ausdehnung.
Den Namen des Künstlers für das Headerbild konnte ich leider nicht heraus finden,sonst hätte ich ihm natürlich verlinkt. Die Quelle des Bildes liegt hier