Cyan – Eine Lektion in Menschlichkeit

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Es ist schon eine Weile her, dass ich auf diesem Blog etwas veröffentlicht habe. Nun ja, wenn man von vergangenen Arbeiten einmal absieht, aber jetzt hatte ich die Gelegenheit, etwas aktuelles, etwas Neues zu schaffen.
Hintergrund dieser Arbeit war eine Ausschreibung des Hybrid-Verlages über das Thema „Mensch 2.0“, die Frage wie man sich die zukünftige Gesellschaft oder den zukünftigen Menschen vorstellt. An dieser Frage zu arbeiten hat mir viel Freude bereitet, mir viel zum Nachdenken gegeben und auch wenn ich es nicht in die Anthologie des Verlages geschafft habe, denke ich dass ich einige Erfahrungen habe sammeln können, die sich vielleicht später einmal auszahlen werden.
Und auch wenn das jetzt vielleicht ein wenig kitschig oder hochmütig rüber kommt, möchte ich gern eine kleine Danksagung an meine Verlobte für die Frage nach Menschlichkeit, an meinen Dozenten für Jüdische Kulturgeschichte für die Frage nach dem Morgen und an meine Kritiker, Korrekteure und Betaleser aussprechen. Ich denke nur durch euch wurde Cyan zu dem, was sie ist.
Oh und noch was: Wenn ihr wissen wollt, wer Mutter ist: Wartet auf die nächsten Teile 😉

Es war Nacht. Zumindest wurde dieser Fakt von den Chronodaten in den unteren linken Ecken der großen und grellen Leuchtreklame-Tafeln vermittelt, die neben den flackernden und immer öfter ausfallenden Neon-Leuchtelementen die einzigen Lichtquellen in den mittleren und unteren Ebenen der Stadt darstellten.
Die Sonne, der Mond oder die echten Sterne konnten nur ganz selten in kleinen schmalen Schlitzen zwischen den Häuserschluchten hindurch beobachtet werden und selbst dann benötigte man Glück. Denn sehr oft war es so, dass „die da oben“ wieder irgendein lichtintensives Spektakel verursachten, das so grell war, dass es die Sterne verschluckte.
Und doch schaute sie immer wieder nach oben, wenn sie eine solche schmale Spalte zwischen den Schluchten entdeckte. Sie brauchte keine Finsternis. Zumindest nicht wirklich. Lediglich mehrmaliges Blinzeln, bis sich die Okulare ihrer künstlichen Augen darauf eingestellt hatten, sämtliches Licht bis auf das der Sterne heraus zu filtern.
Es waren gute Augen. Zumindest glaubte sie das, wenn sie den Gesprächen der Arbeiter lauschte, wenn diese sich über ihre Implantate unterhielten. Und meistens fluchten sie, beschwerten sich, dass ihre mechanischen Glieder nicht das taten, was sie sollten, ihre Implantate juckten und Schmerzen verursachten. Und dann fluchten sie über „die da oben“, jene Menschen – jene Wesen, die sich das Beste vom Besten kaufen konnten, die sich keinen Arm abnehmen und gegen eine mechanische Prothese ersetzen mussten, um einen Job zu finden oder in ihrem Job bleiben zu können. Weil der Arbeitsplatz drohte, von einer Maschine ersetzt zu werden. Man also durch eigene mechanische Verbesserungen konkurrenzfähig bleiben musste. Aber was gab man dafür auf? Mehr als nur einen Arm? Ein Bein? Die Augen?
Und jedes Mal, wenn sie diesen Gesprächen zuhörte, schaute sie auf ihre Hände, die in schwarzen abgegriffenen Handschuhen stecken und die ebenso wie ihre restliche schmuddelige Kleidung den türkisfarbenen Overall verbergen sollten, den sie darunter trug, seit sie denken konnte. Es waren gute Hände, es waren natürliche Hände, keine Maschinen-Hände. Aber sie waren stark wie Maschinenhände, ebenso wie ihre Beine, Füße, Arme. Sie sahen nur nicht so aus. Sie waren weich, bluteten, wenn man sie schnitt.
Aber dann waren da andere Dinge. Wie ihre strahlend blauen Augen. Die ganz leise surrten, wenn sie versuchte, sich auf etwas zu konzentrieren, es fokussierte. Und wenn sie sich bewegte, meinte sie auch stets, ein leises Surren zu vernehmen. Aber sie war nicht wie die Arbeiter, die Bewohner der mittleren und unteren Ebenen.
Sie war nie an der Oberfläche gewesen, hörte immer nur Geschichten, sah die Menschen um sich herum, sah ihre Probleme und die klobigen und teilweise auch unmenschlichen Prothesen, die sie trugen – tragen mussten, um eben nicht obdachlos zu werden.
Aber sie selbst passte nicht hierher. Schien aber auch nicht nach da oben zu passen, wenn sie genauer darüber nachdachte. Und dann, jedes Mal, musste sie an die Worte von Vater denken: „Du bist etwas besonderes. Geh hinaus, lerne die Lektionen, die die Welt dich lehrt, werde ein besserer Mensch. Und komme erst wieder, wenn du alles gelernt hast oder verletzt bist.“
Und Mutter? Mutter hatte geschwiegen. So wie sie es immer getan hatte. Aber sie war immer für Sie da gewesen. Wenn sie verletzt und müde war, hatte Mutter sie immer in ihre rote Umarmung genommen, sie immer beschützt und gewärmt, bis es ihr besser gegangen war. Und sie gehen konnte, um weitere Lektionen zu lernen.

Eine dieser Lektionen war die Wahl eines Namens gewesen. Vater hatte ihr keinen gegeben, er hatte ihr gesagt, sie solle selbst den für sich passenden wählen. Doch was war der für sie passende gewesen? Was war überhaupt ein Name. Sie hatte vier Tage gebraucht, zwei davon hatte sie mit Grübeleien verbracht, während sie durch die Slums gezogen war und versucht hatte, für sich zu ergründen, was ein Name war, was er bedeutete, während sie die Eindrücke, die von allen Seiten auf sie einprasselten, versuchte zu verarbeiten. Dankenswerterweise hatte man sie in Ruhe gelassen, hatte sie nicht bedrängt. In ihrer Kleidung wirkte sie auch einfach zu mager und sie beglückwünschte sich für ihren Einfall, ihren auffälligen türkisfarbenen Overall mit den Anschlüssen und Datenübermittlungs-Leuchtelementen unter schmuddeliger Kleidung zu verbergen. Das war in der Tat ihre erste Lektion gewesen: Falle nicht auf, wenn du nicht auffallen willst. Und sie hatte es nicht gewollt und hatte sich dann nach Alternativen umgesehen, hatte die Menschen beobachtet und daraus Rückschlüsse gezogen, die ihr niemand erklären musste. Sie verstand sie von selbst: Gliedere dich ein, falle nicht auf. So passiert dir nichts.
Erst am dritten Tag hatte sie mit ihrer Suche nach einem Namen weiter gemacht und hatte es fertig gebracht, einer Gruppe schmuddeliger Kinder aufzufallen, als sie eine Taube, die vor ihr auf dem Weg herum lief und etwas vom Boden aufpickte und noch nicht als Bestandteil der Suppe eines Straßen-Imbisses gelandet war, fragte was sie für einen Namen hätte.
Es musste wohl sehr komisch ausgesehen haben, wie das Mädchen mit den strahlend blauen Augen und den nachlässig zusammen gebundenen brauen Haaren vor einer Taube stand und auf sie einredete. Die Kinder hatten sie ausgelacht, doch ihr hatte das nichts ausgemacht… geschweige denn, dass sie es verstanden hätte, aber sie hörte zu. So wie sie immer zuhörte und ihr ging ein grundlegendes Licht auf: Ein Name unterschied jemanden von jemand anderen, er grenzte einen ab, machte ihn einzigartig. Sie hatte das gelernt, als sie den Kindern zugehört hatte, wie diese sich mit Worten ansprachen, die im Kontext keinen Sinn ergaben. Worte, die sie noch nie zuvor gehört hatte und Vater hatte Wert darauf gelegt, dass sie über einen breiten Sprachschatz verfügte. Und dann war es ihr klar geworden: Es waren keine Wörter im semantischen Sinne! Diese Worte waren Namen – auch wenn sie sich fragte, was Stinker bitte für ein Name sein sollte.
Aber damit war sie ihrem Ziel einen Schritt näher gekommen, hatte einen – in ihren Augen – elementaren Teil des Namens begriffen. Und dann begann das Grübeln.
Es dauerte noch einen weiteren Tag, an dem sie über die Lektion von Vater nachdachte und darüber, was sie bisher heraus gefunden hatte. Und dann entschied sie. Es würde zu ihr passen und es definierte sie. Sie fühlte sich damit wohl. So ging sie zurück zu Vater, über den Schlackeberg bei den Stahlwerken, über die Müllhalden in der Südlichen Ausdehnung, weit abseits der sich in den Himmel empor reckenden Häuserschluchten. Und dann zu dem Eingang, von dem Vater gesagt hatte, sie solle ihn verwenden, wenn sie heim wollte. Komischerweise hatte sie das Gefühl, dass sie den Weg wieder in Richtung der Slums zurück ging, sie hatte nur keine Möglichkeit, sich zu orientieren. Überall – Links, rechts, oben, unten – war nur dieser lange Korridor mit dem Gitterboden, den Rohren an den Wänden und den Leuchtelementen an der Decke.
Und dann stand sie vor der schweren, mit Hydraulik und Panzerung gesicherten Tür, klopfte. Es dauerte eine Weile, bis sie aufschwang. Vater stand vor ihr, Mutter war nirgends zu sehen, doch das Mädchen konnte sie riechen… ihren süßen Duft, der von irgendwo hinter Vater kam und gerne wäre sie zu ihr geeilt, hätte Mutter gerne begrüßt, doch Vater stand vor ihr, die Arme verschränkt, die grauen Strähnen in seinem Bart waren mehr geworden und er schaute auf das Mädchen hinab, wie sie abgerissen und schmuddelig vor ihm stand, nur ohne passende Schuhe, die elastischen Sohlen ihres Anzuges erschienen ihr nach wie vor als die besten Schuhe, die man haben kann.
„Nun?“, hatte er gefragt und sie hatte die Jacke geöffnet, ihr Hemd nach unten geschoben und auf das Türkis auf ihrem Overall gezeigt. Vater hatte die Stirn gerunzelt. „Du hattest eine Aufgabe, Kind. Du solltest eine Lektion lernen.“ Das Mädchen blieb eisern, nickte. „Ich habe die Lektion gelernt, Vater. Und ich habe gewählt.“ Sie zeigte wieder auf das Türkis, sah ihn fest an und ihre Augen surrten ganz ganz leise, als sie ihn mit ihrem strahlend blauen Blick fixierte.
Vater verstand nicht sofort. Erst nach und nach breitete sich auf seinem Gesicht verstehen aus und er nickte dann. „Also schön. Dann soll dein Name also Cyan lauten.“ Er lächelte, kurz, knapp. Aber es reichte, um Cyan zu zeigen, dass sie ihn zufrieden gestellt, dass sie ihn stolz gemacht hatte. Und sie erwiderte sein Lächeln, verlor es aber rasch, als sie seine nächsten Worte hörte: „Nun geh los und lerne eine weitere Lektion: Lerne Menschlichkeit, Cyan. Komme nur wieder, wenn du verletzt bist.“ Und damit schloss sich die dicke Panzertür vor Cyan mit einem Zischen und sie stand erneut vor einer Aufgabe, einer Mauer.

Lerne Menschlichkeit. Diese Aufgabe beschäftigte Cyan nun bereits sehr sehr lange. Bereits seit mehreren Monaten streifte sie durch die unteren Ebenen der großen Stadt, beobachtete die Menschen und versuchte zu verstehen, was die Aufgabe Vaters bedeutete.
Cyan hatte begonnen zu begreifen, dass die Menschen, die sie umgaben, nicht wie sie waren. Nicht wie Vater waren. Allein ihr Äußeres, ihre Augmentationen, kybernetischen Implantate waren anders. Und erneut fragte sich Cyan, ob sie so war, wie diese Menschen. Oder war sie ein Mensch und die anderen waren es nicht? Diese Fragen verwirrten sie, bereiteten ihr Kopfschmerzen und schienen das Ziel, das Lösen der Aufgabe Vaters, in immer weitere Ferne rücken zu lassen.
Also beobachtete sie die Menschen weiter, versuchte von ihnen zu lernen, das Miteinander zu verstehen. Aber es gab da nicht viel zu verstehen. Hier unten in den Slums galt das Recht des Stärkeren. Man nahm, was man brauchte, hortete es und wer nichts hatte, der wurde von jenen unterdrückt, die genug hatten, um andere dafür anzuheuern, andere auszurauben.
Aber auch hier gab es Unterschiede: Wer Implantate, Prothesen oder Augmentationen besaß, hatte bessere Chancen. Auf einen Job, einen Platz in einer der Banden, die Chance Geld zu verdienen. Und dann gab es jene Menschen, die nichts davon hatten, die „Naturals“. Sie konnten sich keine Verbesserungen leisten, wollten sich dafür nicht verschulden oder taten es aus moralisch-religiösen Gründen nicht, wie Cyan einmal einen von ihnen sagen hörte. Sie waren der Bodensatz vom Bodensatz. Wie die anderen waren sie von „denen da oben“ weggeworfen und hier herunter getrieben worden, damit sie litten, sich selbst aufgaben, selbst verbesserten, um arbeiten zu können.
Aber wer „die da oben“ waren, wusste Cyan nicht. Für sie hatten diese Wesen schon fast etwas mystisches, fast wie Götter… grausame Götter, von denen die Bewohner der Slums voller Angst und Abscheu sprachen. Aber wenn Cyan hier unten nicht lernen konnte, was Menschlichkeit war, konnte sie es dann da oben? Dort, wo das Licht war?
Aber was war ihre Aufgabe? Sollte sie lernen, was es hieß, menschlich zu sein? Oder ein Mensch zu sein? Was war Menschlichkeit? Was davon? Welcher Aspekt? Welcher Kern? Sie zerbrach sich den Kopf darüber, doch musste diese Gedanken alsbald auf die Seite schieben. Denn selbst wenn sie auf ihre Fragen eine Antwort gehabt hätte: Hier unten konnte sie nichts mehr lernen.

Der Aufstieg in die Oberstadt war für die Bewohner der Slums per se nicht verboten. Es wagte sich nur keiner dort hinauf. Das helle Licht dort oben schmerzte in den Augen, die lediglich an das Halbdunkel der Slums, die flackernden Leuchtelemente und die Neon-Reklametafeln gewöhnt waren. Und Cyan hatte bisher nie den Wunsch verspürt, den Aufstieg durch die Ebenen – von Aufzug zu Aufzug durch jede Ebene zu wandeln – zu machen. Wozu auch? Dort oben hatte es nichts für sie gegeben, zumindest hatte sie so empfunden. Doch jetzt hatte sie ein festes Anliegen, einen Plan, ein Ziel.
Je weiter nach oben sie kam und je niedriger die Zahl-Namen der Stockwerke wurden, desto sauberer, heller und freundlicher wurde alles um sie herum. Natürlich war es vermutlich nichts im Vergleich zu der Oberfläche, aber ein ungutes Gefühl beschlich die junge Frau bereits jetzt, wie sie in ihren schmuddeligen Kleidern gemustert, teilweise sogar angegafft wurde, wenn sie sich nicht in der Menge bewegte, für das Auge verschwamm und ein Teil der grauen Masse wurde.
Doch auch jemandem, der über so viele Dinge nichts wusste, wie Cyan wurde klar, dass sie sich wohl oder übel neue Kleidung besorgen musste, wenn sie dort oben nicht auffallen wollte. Daher entschied sie sich dafür, einen anderen Weg einzuschlagen und sich erst einmal mit diesem Problem auseinander zu setzen. Letztendlich würde es hoffentlich genauso laufen, wie in den Slums, als sie versucht hatte, ihren auffälligen türkisfarbenen Anzug mit den schwarzen Elementen, Anschlüssen und den Datenübermittlungs-Leuchtelementen zu verbergen. In der Theorie zumindest. In den Slums gab es so gut wie keine Sicherheitskräfte, wenn man mal von den Schlägern aus den Banden absah, die über ihr Territorium eifersüchtig wachten und fast schon auf eine sehr makabere und zynische Art und Weise eine Art Bürgerwehr darstellten – eine ständig betrunkene oder von Drogen benebelte und einem alles abpressende Bürgerwehr.
Aber hier gab es welche und mit strengem Blick patrouillierten sie zu zweit die Straßen entlang und allein durch ihre Präsenz schienen die Menschen von Ebene zu Ebene, die Cyan nach oben reiste, gelöster – zumindest kam es ihr so vor, aber ihre Beobachtungen zeigten noch etwas anderes.
Die Augmentationen und Verbesserungen wurden… ästhetischer und wirkten längst nicht mehr so klobig und krude wie ganz unten. Auch schienen sie besser gearbeitet zu sein und für „hochwertigere“ Arbeiten als einer Zehn-Stunden-Schicht in einem Stahlwerk gemacht worden zu sein.
Und noch etwas ging Cyan auf. Es war ab dem Moment, als sie die zehnte Ebene unter der Oberfläche erreichte. Sie konnte sich auch täuschen, doch die Menschen hier begannen, gesünder zu wirken. Die Augmentationen wurden weniger, viel mehr musste man bei manchen genauer hin sehen, um sie noch zu erkennen. Aber die Andersartigkeit lag woanders. Es war dieses „Gesund wirken“, dass die Menschen schon fast von innen heraus strahlen ließ. Und hier und da sah Cyan auch Menschen, die im wahrsten Sinne des Wortes schöner waren als andere, aber auch welche, die vollkommen andersartig erschienen. Viel zu grazil für einen Menschen – zumindest wenn man die Maßstäbe aus den Slums ansetzte. Was war hier anders als da unten?
Sie hatte tausend Fragen, aber alle mussten zurück stehen, bis sie sich neue Kleidung besorgt hatte. Schließlich erhielt sie ihre Gelegenheit, als zwei Bewohnerinnen der Ebene aus einem Geschäft traten und sehr ausführlich miteinander plauderten, sodass sie ihre Umgebung gar nicht wahrnahmen – zumindest nicht richtig. Sie hatten große Tüten dabei und aus mehreren davon ragten – bingo! – Kleidung! Cyan brauchte mehrere Anläufe, bis sie sich ein Herz fasste, ihrem Körper so weit vertraute, dass er sie ein weiteres Mal mit seiner… Andersartigkeit ans Ziel führen würde und begann, sich ein paar Sachen zu stibitzen. Nun ja, leihen. Sie lieh sie sich, wir wollen fair bleiben, immerhin nahm sich die junge Frau fest vor, die Kleidung zurück zu geben.
In einer Seitenstraße, in der sie niemandem auffiel, zog sie sich rasch um, schälte sich aus den alten Klamotten und schlüpfte in die neuen. Sie waren luftiger, besser gearbeitet und ein bisschen schäbig kam sich Cyan ja doch vor, als sie auf ihre alten Kleider und die Handschuhe, die sie noch immer trug, schaute. Sorgfältig verbarg sie ihre alte Kleidung in der Gasse, bevor sie sich wieder auf den Weg machte.
Unterwegs stahl sie sich noch rasch in einem Café auf die Toilette, um sich das Gesicht zu waschen und ihre Haare zu ordnen. Nun fühlte sie sich bereit, den Gang an die Oberfläche zu wagen und je länger sie sich im Spiegel über dem Waschbecken betrachtete, desto mehr… gefiel sie sich. Sie fragte sich, was Mutter wohl sagen würde, wenn sie ihr Kind so sehen würde. Aber vermutlich würde Mutter nichts sagen. Wie immer. Aber Cyan durch eine warme rote Umarmung zu verstehen geben, dass sie stolz war. Stolz auf Cyan und stolz auf das, was das Mädchen erreicht hatte.

Den Moment, als Cyan zum ersten Mal in ihrem Leben die Sonne sah, würde sie niemals vergessen. Zuerst war alles grell, als sie aus dem letzten Aufzug stieg, der am Rand einer großen Promenade in der Wand eines Gebäudes eingelassen war.
Sie musste die Augen zusammen kneifen und die Okulare ihrer Augen surrten hektisch, um sich auf die ungewohnten Lichtverhältnisse einzustellen, während ihre Besitzerin die Augen mit der Hand gegen die Sonne abschirmte.
Doch dann klärte sich ihre Sicht und es war, als wenn sie in den Himmel eingetreten wäre, von dem unten in den Slums die religiösen Naturals erzählten: Ausgedehnte Parks mit allerlei Grünflächen, Bäumen, weißen Statuen und langen Alleen bestimmten das Bild der Oberfläche, zwischen den anmutig erbauten Hochhäusern schwirrten Gleiter umher wie Bienen um einen Bienenstock, während auf den mit weißem Marmor ausgelegten Straßen Menschen in hellen und vor allem exotischen Kleidern herum spazierten.
Der Himmel war blau, beinahe so blau wie Cyans Augen, nur vereinzelt hingen weiße Fetzen wie ausgerupfte Slumtauben Federn dort oben. Waren das Wolken? Sie kannte so etwas nur aus Erzählungen, so wie vieles, was sie wusste. Vater hatte ihr nur Lehraufträge gegeben und nie erzählt. Und Mutter? Mutter hatte geschwiegen und sie einfach nur umarmt.
Es war wie eine andere Welt in der Cyan sich nun langsam begann zu bewegen. Selbst der Boden unter den elastischen Sohlen ihres Anzugs fühlte sich anders für sie an, es fehlten die Unebenheiten von Dreck und Schlaglöchern der unteren Ebenen und der Slums. Natürlich waren die oberen Ebenen ebenfalls sehr gepflegt, aber das hier… es schien, als wenn man hier selbst vom Boden essen könnte, doch Cyan hatte so das Gefühl, dass man dies besser nicht tun sollte.
Stattdessen ging sie eine der langen Alleen entlang, schaute sich mit offenem Mund um, nahm die Eindrücke auf, die wie Regentropfen auf sie einprasselten, saugte sie förmlich auf wie ein Schwamm, begann wieder mit dem, was sie am besten konnte: Die Menschen um sich herum zu beobachten.
Die Andersartigkeit, die ihr bereits in den oberen Ebenen aufgefallen war, konnte sie hier noch viel häufiger und teilweise extremer ausgeprägt feststellen. Der Gipfel dessen war eine Frau, die in einem lachsfarbenen Kleid an ihr vorbei ging, die Haare hochgesteckt, sodass man ihre fast schon gemeißelten Gesichtszüge sehr wohl sehen konnte. Und Cyan, die eigentlich über sehr gute Augen verfügte, musste zweimal hinschauen, da sie nicht glauben konnte, dass diese Frau wirklich spitze Ohren hatte. Es war viel zu unwirklich, um wahr zu sein, doch je weiter sie sich an der Oberfläche fort bewegte, desto häufiger traf sie auf derartige… Veränderungen. Jedoch nicht zwangsläufig so, wie sie es bei der Frau gesehen hatte.
Sie ging an einem Mann vorbei, der an einem weißen Kasten saß, der wie der Flügel einer Slum-Taube geformt war und entlockte diesem irgendwie Töne, wenn er Tasten drückte. Sie beobachtete ihn eine Weile, die Töne klangen nämlich schön – so schienen es auch andere Passanten zu empfinden, die ihm ebenfalls lauschten. Doch was sie irritierte an ihm, konnte sie nicht sagen. Erst als sie sich einen Handschuh abzog und die Glieder ihrer Finger zählte, zu dem Spieler hin sah und seine Finger angestrengt fokussierte: Er hatte an jedem Finger ein Glied mehr!
Irritiert schob sie den Handschuh wieder über ihre Finger, schüttelte den Kopf, ging weiter. Andere Veränderungen an den Menschen konnte sie nicht in Worte fassen, da ihr die Begriffe fehlten, um es angemessen zu beschreiben. Aber niemals sah sie Augmentationen, kybernetische Verbesserungen oder Prothesen!
Und auch als sie die Werbetafeln, die hier an Gebäuden hingen oder in der Luft schwebten und nahezu durchweg schöne Menschen oder Menschen mit diesen… Andersartigkeiten zeigten, sah sie niemals Werbung für Augmentationen, sondern lediglich Dinge wie Splicing, DNA und… Genetik. Sie kannte das Wort nicht, hatte es nie zu vor gehört, aber offenbar war das die Art der Oberflächenbewohner, sich zu verbessern.
Aber warum nur sie? Warum nicht die Bewohner in den Slums? Cyan zerbrach sich den Kopf darüber, setzte sich auf eine Parkbank. Ihr fiel keine Antwort ein und sie verfiel ins Grübeln, während sie die Passanten beobachtete.
In der Nähe saß ein älterer Mann, abgerissen in zerschlissener Kleidung. Der linke Arm war eine Prothese und offensichtlich bettelte er um Geld. Sie beobachtete ihn eine Weile und auch die Menschen, die an ihm vorbei gingen. Die meisten ignorierten ihn, einige sahen ihn abfällig an. Ein paar wenige spuckten vor ihm auf den Boden und murmelten etwas, bevor sie weiter gingen. Cyan wechselte ihre Bank, arbeitete sich Stück für Stück zu den Mann vor, bis sie fast neben ihm saß und jetzt auch hören konnte, was die Menschen sagten. Worte wie „Dreckiger Mecha!“ „Verseuch‘ nicht die Oberfläche!“ „Ab in die Slums zu deinesgleichen, wo du Arbeiterabschaum hingehörst!“ drangen an ihr Ohr.
Die junge Frau musste es erst verarbeiten, musste darüber nachdenken, was die Menschen hier oben meinten. Offenbar war diese Genetik die Art, wie sie sich verbesserten und scheinbar war sie sehr teuer. Und offenbar wollten sie ihre schöne Welt, auf die Cyan fast neidisch war, für sich behalten, wollten jene mit mechanischen Augmentationen, Kybernetik und Augmentationen nicht hier haben, wo der Sinn für Ästhetik über allem stand… wo die Hässlichkeit der Maschinen kein Platz hatte und wo Menschen nicht gleich Menschen waren.
Bedeutete es das, ein Mensch zu sein? Sich von anderen abzuheben, sich abzugrenzen, Mauern zu errichten und andere auszusperren, damit man seinen fragwürdigen Reichtum und die Schönheit für sich beanspruchen konnte? Cyan schaute nachdenklich auf ihre Hände, leise surrten ihre Okulare, als sie ihre Finger fixierte, sich darauf konzentrierte. Und was war sie? Wer oder was war Cyan? Auch sie war mechanisch, das wusste sie… aber sie war nicht so mechanisch wie die anderen, auch nicht so, wie die Bewohner der oberen Ebenen. Sie hatte Haut, sie blutete, sie konnte denken, aber war auch keine Maschine, da war sie sich sicher.
Die junge Frau ballte ihre Hände zu Fäusten, leise surrten ihre Gelenke. Das war falsch, das war… nicht menschlich. Es war eine Spezies, nicht zwei, keine besser oder schlechter als die andere. Ihr Blick wanderte zu dem Bettler und sie stand langsam auf.
Dabei bewegte sie sich ruckartig und etwas klimperte in ihrer Hosentasche. Nanu? Sie hielt inne, schob eine Hand in besagte Tasche und tastete. Creditchips… wie waren die denn da rein gekommen? Dann erinnerte sie sich dunkel, dass lediglich das von ihr geliehene Oberteil einen Zettel an sich dran gehabt hatte und es damit wohl als neu auswies. Die Hose nicht. Vermutlich hatte die ehemalige Besitzerin gleich ihre neueste Errungenschaft angezogen und ihre alte Hose in die Tüte gestopft. Cyan tat es nicht leid… überhaupt tat es ihr nicht mehr leid, dass sie die Kleidung gestohlen hatte. Denn das hatte sie. Nicht geliehen. Sie würde sie auch nicht zurück bringen.
Cyan ekelte sich regelrecht davor, an den Gedanken, auch ein Mensch zu sein. Ihre Finger schlossen sich um um die Credits und sie ging gut sichtbar auf den Bettler zu. Mehrere Passanten blieben kurz stehen, als sie vor dem Mecha, wie ihn die anderen Menschen genannt hatten, in die Hocke ging und ihm die glänzenden Münzen in die mechanische Hand legte.
Verblüfft sah er sie an, dann auf die Credits und dann wieder zu Cyan. Und dann hörte er es surren, als ihre Augen sich auf ihn einstellten. „Du bist keine von denen“, sagte der Bettler leise und Cyan zog die Nase hoch. „Nein.“ Er lächelte matt. „Das ist… sehr menschlich von dir. Danke, junge Dame. Ich danke dir.“ Sie nickte, erwiderte sein Lächeln. Es war das erste Mal, dass Cyan in ihrem Leben lächelte. „Ich habe es… gern gemacht. Glaube ich.“ Sie zuckte mit den Schultern und stand auf. „Ich muss dir auch danken“, sagte sie schließlich, griff sich an den Hinterkopf und schob das Band, mit dem sie ihre Haare zusammen gebunden hatte, wieder in Position. „Du hast mich eine wichtige Lektion gelehrt. Ich hoffe, es gibt mehr… menschliche Wesen.“ Ein letztes Mal lächelte sie, dann ging sie, verschwand in der Menge.

Fast schon donnernd fuhr die geballte Faust auf das Schott nieder. Einmal, zweimal, dann dreimal. Als sie die Hand zum vierten Mal heben wollte, um auf die Tür einzuschlagen, glitt diese mit dem gewohnten Zischen auf und Vater stand vor ihr. Ernst, würdevoll und erhaben wie ein Lehrer. Nicht wie ein Vater, der seine zurück gekehrte Tochter in Empfang nahm.
„Nun?“, fragte er, versperrte mit seinem Körper den Eingang. Cyan wollte ihn nicht sehen, sie wollte zu Mutter, aber Mutter war nicht da. Mutter war nie da, auch wenn der rote Schein, den sie weit hinter Vater wahrnehmen konnte, auf ihre Anwesenheit hindeutete. Aber sie würde heute nicht zu Mutter gehen. Sie sah zu ihm auf, ihn ihren blauen Augen, auch wenn sie nicht aus Fleisch und Blut waren, schimmerte Trotz und Abneigung. „Ich habe die Lektion gelernt.“
Er lächelte. Vater lächelte und es hätte schön sein sollen, doch Cyan empfand es als abstoßend und widerwärtig. „Schön!“, freute er sich, klatschte in die Hände. „Du bist auf dem besten Weg, mein Kind. Du bist fast soweit, du bist auf dem besten Wege, der neue Mensch, der Homo novus, der Mensch 2.0 zu werden! Nicht mehr viel und-“
„Nein!“, fuhr Cyan ihm dazwischen, machte mit ihrer Hand, ihrem Arm, eine wischende Handbewegung. „Ich habe gelernt, was Menschlichkeit bedeutet, Vater. Ich lehne es ab! Es widert mich an. Die Menschen sind ein Volk, doch sie trennen sich voneinander, sperren einander aus dem Reichtum aus, den sie haben, während andere in Armut leben, selbst ihre Menschheit aufgeben, um jenen die die Mauer errichtet haben, noch mehr Reichtum zu kommen zu lassen! Das ist Menschlichkeit! Und wenn es das bedeutet, ein Mensch zu sein, dann lehne ich es ab!“ Trotzig sah die Schöpfung den Schöpfer an, der eine brave Tochter, eine folgsame junge Frau erwartet hatte.
„Ich erwarte nicht, dass du es verstehst, Vater. Du bist keiner von denen, die unten sind. Du bist kein… Mecha. Aber ich glaube auch nicht, dass du ein Natural bist. Du glaubst, es besser zu machen. Aber du bist genauso ein Mensch wie die, die ich gelernt habe, zu verabscheuen.“
Sie wandte sich ab, blieb halb in der Drehung stehen, sah ihren Vater an. Sie wollte zu Mutter… aber Mutter war hinter Vater, Cyan hätte an ihm vorbei gemusst… Der Abschied würde warten müssen. „Menschlichkeit ist es, einander zu helfen. Und erst wenn der Mensch das weiß, will ich ein Mensch sein. Bis dahin bin ich, was ich bin. Ich bin Cyan und ich habe meine Lektion in Menschlichkeit gelernt.“
Sie drehte sich um und ging, den Korridor entlang, blickte nicht zurück und verschwand in Richtung der Ausdehnung.

Den Namen des Künstlers für das Headerbild konnte ich leider nicht heraus finden,sonst hätte ich ihm natürlich verlinkt. Die Quelle des Bildes liegt hier

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Lyrics of the Past #1 – „Part of speech poems“

Gerade dachte ich noch „What ze fack! Schon einen Monat lang nichts mehr verfasst?!“ Nun ja, das kann eben passieren, wenn man sich die Zeit nicht gescheit einteilt und hier mal ein bisschen was für die Uni tut und da sehr vie prokastiniert und dort rumgammelt… ich bin halt doch eine ehrliche Seele und gebe zu, dass ich ein faules Söckchen bin. Aber gut, jetzt versuche ich, mich zu bessern und starte mit ein wenig Zeug aus meiner „Schreibervergangenheit“ – man soll ja zu seinen Sünden stehen.
Dieses Mal etwas aus der Zeit, als ich den Literaturkurs meiner High School besucht habe, als ich in den Staaten war, weswegen es auf englisch ist… aber man sollte ja sowieso seinen Horizont stets erweitern und auch mal nicht auf Deutsch dichten. Fehler sind übrigens kreative Mods =P
#MissyouNewPrague

A Knight
Fearless and honorable
Defend and fight
lightly
Sword

The Book
Heavy and old
Waits for reading
secretly
Page

A Rose
Beautiful and red
Smells and stings
Untouchable
Flower

Eine kleine Lyrik-Sammlung

Dann und wann kann es vorkommen, dass man sich doch an Dingen versucht, die man eigentlich nicht mag. Dass man dann aber doch eine gewisse Schwäche für manche Arten entdeckt ist dabei aber doch nicht so selten. Deswegen probieren wirs doch nochmal mit Lyrik.

 

Nach Berthold Brecht 1941

Das Gemäuer von sandiger Farbe
Daran geschoben dunkles Holz, in Form gebracht.
Unordnung, Papiere und Werkzeug beherrschen das Bild
Zwei Bildschirme, ein schwarzes Gehäuse komplettieren.
Darüber die Klingen aus weit entfernten Universen,
ein Traumfänger.
Und jeden Tag heult leise der Strom frischer Luft
In der von buntem Licht durchbrochenen Schwärze.

 
Nur damit du Bescheid weißt

Ich habe die Farbe
geleert
die du für deine Kunst
verwendest

du hast
sicher damit
ein Gemälde
malen wollen

Es tut mir leid
ich habe sie
benutzt um
die Wand zu streichen

Haikus

Ein Bildnis an der Wand:
Schönheit in Öl gebannt.
Blutrot.
 
Ein Stein unter der Weide:
Altes Grab vergessen.
Kälte.

Wellen, Gischt, springender Fisch,
Rauschen, auch Möwen,
Wale und Bedeutungslosigkeit, oder?

Romane in Pillenform

Normalerweise ist es so, dass ein Autor versucht, etwas eigenes zu schaffen und aus dem Nichts sein „eigenes Ding“ entstehen zu lassen. Bis vor Kurzem hing ich ebenfalls dieser Theorie an, allerdings hatte ich die Gelegenheit, einen Autor kennen zu lernen, der dies etwas anders handhabt: Giorgio Manganelli (1922-1999) wurde in Deutschland insbesondere durch sein Werk „Centuria“ (dt.: Irrläufe) bekannt. Es handelt sich um eine Sammlung von einhundert Romanen, die jeweils nur eine Seite lang sind. Zunächst scheint die Themenwahl willkürlich; aber im Fortgang zeigt sich, dass die einzelnen Romane ein komplexes Netzwerk bilden. Wiederkehrende Themen sind: Sinnkrisen; Gespenster; die Hölle; Mörder; Dinge, die nicht existieren; Räuber; Prinzessinnen; Tyrannen.

Von Manganelli habe ich mir nun einen solchen „Roman in Pillenform“ heraus gepickt und ein wenig weiter gestrickt bis zu einem Punkt, wo ich denke dass er entweder fertig ist oder von jemand anderem weiter geführt werden kann. Zum Verständnis folgt nun zunächst Manganellis „Vorarbeit“, bevor ich sie weiter führe:

16 Der Herr im Leinenanzug mit Mokassins und kurzen Socken sieht auf die Uhr: es ist zwei Minuten vor acht. Er ist zu Hause und sitzt mit leichtem Unbehagen auf der Kante seines strengen und steifen Stuhls. Er ist allein. In zwei Minuten – jetzt sind es nur noch neunzig Sekunden – muß er anfangen. Er ist heute ein wenig früher aufgestanden, um auch wirklich bereit zu sein. Er hat sich mit Sorgfalt gewaschen, hat aufmerksam uriniert, geduldig den Darm entleert und sich mit peinlicher Genauigkeit rasiert. Seine gesamte Wäsche ist neu, nie gebraucht, und dieser Anzug wurde bereits vor über einem Jahr eigens für diesen Morgen angefertigt. Ein ganzes Jahr lang hat er es nicht gewagt, er ist oft sehr früh aufgestanden – im übrigen ist er ein Morgenmensch – aber immer, wenn er sich nach Besorgung aller Vorbereitungen auf den Stuhl setzt, schwindet ihm der Mut. Doch jetzt wird er gleich anfangen: es fehlen noch fünfzig Sekunden bis acht.

Wenn das Innere sich dagegen sträubte, dass die Zeit verging, konnten fünfzig Sekunden eine lange Zeit sein. Dahinglitten sie wie eine Schnecke, verwandelten sich in Minuten, Stunden, Tage. Langsam, sehr langsam näherte sich die Zeit dem Moment, in dem der Zeiger auf Acht springen würde. Acht Uhr: Ein ganzes Jahr war auf diesen Moment ausgerichtet, darauf was passieren würde oder könnte. Und am Ende war er erneut verzagt, jedes Mal aufs Neue. Doch heute – heute hatte er entschieden, dass dieser Moment der Richtige sein sollte und alles war auf diesen einen Augenblick hin ausgerichtet.

Schon dreißig Sekunden. Hatte er an alles gedacht? Rasch ging er im Geiste seine Vorbereitungen durch, während seine Hände ruhig auf der Fläche des Tisches ruhten, der vor ihm stand. Sein Körper schmerzte, da die Kante des Stuhls sich unvorteilhaft in sein Fleisch bohrte, Dennoch verharrte er in dieser Position, unwillig sich zu bewegen und die Stasis des Moments zu unterbrechen. Konzentration und Ruhe waren die Zauberworte, die diesen Augenblick definierten und von denen er gedachte, sich abhängig zu machen, um an diesem besonderen Morgen gar nichts falsch zu machen.

Zwanzig Sekunden. War er sich der Gefahren bewusst, denen er sich aussetzte? Möglicherweise hatt er sich nun lange genug gesträubt und gezögert. Jahr für Jahr hatte er sich zurück gehalten, gewartet und dann doch den Mut verloren. Aber nun war er bereit, nun galt es sich zu erheben und zu einem Leuchtfeuer zu werden. Ein Leuchtfeuer, das rasch zu einem Lauffeuer werden konnte – anderen Mut geben konnte. Eine Überlegung, die er bis zu diesem Morgen stets angefangen, aber nie bis zum Ende gedacht hatte.

Zehn Sekunden. Ist er wirklich sicher? Ein kurzes Zögern, das Aufflackern von Unsicherheit: Das Verlangen, wie jeden Tag einfach aufzustehen und das Ganze auf den nächsten Tag aufzuschieben. Ein Blick auf das Bild an der Wand. Die Erinnerungen an vergangene Tage. Ein letztes Mal blickt er auf die Uhr. Vergewissert sich, dass alles bereit ist. Blickt auf den Tisch vor sich – er nickt, ist sich sicher. Nein, heute muss es sein. Denn nur heute war es genau ein Jahr her. Nicht früher, nicht später. Er nickt, ist bereit.

Punkt Acht. Der Mann streicht ein letztes Mal seine Anzug glatt. Er fährt sich mit der Hand durch das Haar. Dann schnippt sein Finger schon fast den Schalter um, er verändert die Frequenz des Senders vor sich und mit klarer Stimme spricht er in das Mikrophon: „Es ist acht Uhr morgens, am 15. März im fünfzehnten Jahr des Regimes. Ich bin die Stimme der Freiheit. Dies sind die Nachrichten – unzensiert und näher an der Wahrheit als es die Obrigkeit wünscht.“

Der kleine tapfere Ritter

Diese Geschichte soll kein Märchen sein. Auch soll sie kein Lied auf die Liebe oder großen Heldenmut sein. Viel mehr ist diese Geschichte ein Mahnmal dafür, dass manche mehr und manche weitaus weniger bekommen, als das, was ihnen zustünde.

Der Held unserer Geschichte ist ein kleiner tapferer Ritter, dessen Herz jedoch so groß war, dass es gut einem Riesen zu Gesicht gestanden hätte. Er selbst hatte einen Namen, doch die wenigstens von uns hätten ihn aussprechen können. Doch er war bekannt unter dem Namen Aglai – Sir Aglai, vom Orden der vier Pfoten, Tapferer Recke der sechs Häuserblocks.

Ihr fragt euch jetzt sicher, ob ich euch mit dieser Aussage veräppeln möchte. Doch ihr müsst wissen, dass Aglai ein Kater gewesen ist, der dereinst ausgezogen war, um das Böse in all seinen Formen und Gestalten zu bekämpfen. Viele Schlachten hatte der tapfere kleine Ritter bezwungen und sein Körper war davon gezeichnet: Ihm fehlte ein Auge, ein Ohr war schon halb abgerissen und seine linke Vorderpfote war einmal gebrochen worden und in der Folge schlecht zusammen gewachsen.

All das hätte weitaus geringere Ritter dazu bewogen, aufzugeben. Doch so nicht Aglai. Denn Aglai war tapfer und hätte noch gefochten, wenn sein Leben dabei ein Ende gefunden hätte.

Nach Jahren der Reise war Aglai in einer Gegend angekommen, die von seltsamen Riesen bewohnt wurde. Diese Riesen lebten in großen grauen Blöcken, mit Löchern für Fenster und Türen und sie gaben Aglai den Namen, unter dem er fortan bekannt werden sollte: Aglai.

Aglai selbst hieß – wie wir schon wissen – nicht Aglai. Allerdings erhielt er niemals die Gelegenheit, sich diesen Riesen vorzustellen. Sie sahen ihn und riefen „Aglai! Aglai!“ Und manchmal warfen sie auch Steine nach ihm.

Aglai, der ihre Sprache nicht verstand, nahm an, dass es das Wort der Riesen für Ritter war und das gefiel ihm. Und so nahm er diesen Namen an. Was ihm natürlich nicht gefiel, war dass diese Riesen Steine nach ihm warfen, doch er lernte, den Riesen aus dem Weg zu gehen. Es war natürlich bedauerlich, dass diese Riesen seine Hilfe nicht wollten, doch so war es an Aglai, sich etwas zu suchen, an dem er seine Tapferkeit beweisen konnte.

Doch Aglai, welcher ein tapferer kleiner Recke war, war nicht nur tapfer. Er hatte auch ein großes Herz. Jahre der Wanderschaft hatten Aglai gezwungen allein zu leben und nicht selten sehnte er sich des Nächtens nach der Wärme eines anderen. Jemand, der ein Freund war, eine Geliebte. Jemand, mit dem er seine Hoffnungen, Sorgen und Ängste teilen konnte.

Doch es gab in dieser Gegend niemanden, der bei ihm bleiben wollte. Es gab nur diese Riesen und ihre Rufe. „Aglai! Aglai!“

Der kleinere tapfere Katzenritter durchstreifte viele Tage dieses fremde Land, erkundete es und lernte seine Eigenheiten kennen. Ihm fiel auf, dass es in sechs quadratische Gebiete, getrennt durch erstarrte Flüsse, eingeteilt war. An einem Tag lief Aglai die ganzen sechs Quadrate entlang, erkundete wie lang er brauchen würde, um dieses Gebiet verteidigen zu können. Denn Aglai hatte geschworen, dieses Land zu beschützen. Und so wurde er zu Aglai, dem kleinen tapferen Katzenritter der sechs vom erstarrten Fluss umspülten Landen.

Es war ein seltsames Land. Die Riesen warfen Essen fort – viel und vorallem gut. Aglai fragte sich, was für ein Land dies sein musste, wenn diese Wesen so viel Essen fort warfen. Daheim in seinem Land gab es nicht so viel, manchmal gab es Hungersnöte. Es kam ihm ungerecht vor und in seinem kleinen großen Herzen machte sich Trauer breit ob dieser Ungerechtigkeit.

Doch er konnte dieses Land nicht verlassen, er musste es doch beschützen. Und so blieb er, bewachte das Land Tag ein, Tag aus. Und sann darüber nach, wie er seinem Volk daheim eine Nachricht zu kommen lassen konnte. Doch er verzagte nie. Er suchte immer nach neuen Herausforderungen, maß sich mit den größten Gefahren und erlebte große Abenteuer.

Wie an dem Tag, an dem er beinahe von einem eisernen Drachen getötet wurde, die die Riesen ritten. Doch wie durch ein Wunder konnte er dem Ansturm des Drachen ausweichen und seinem donnernden Brüllen entkommen.

Doch andere Abenteuer harrten darauf, dass Aglai sie erforschte, doch nicht allen ging der kleine tapfere Katzenritter nach. Es war eine Sache, tapfer zu sein. Doch töricht zu sein, war eine ganz andere Sache und Aglai wollte nicht töricht sein.

Und so gab es Abenteuer, die er bestritt und auch Abenteuer, wo ihm sein kleines großes tapferes Herz sagte, dass es besser wäre, nicht zu tapfer zu sein.

So vergingen viele Monde und noch viel mehr Sonnen, bis Aglai eines Tages den beiden Bärenwölfen begegnete. Er wusste, dass die Riesen sich viele komische Tiere der unterschiedlichsten Arten hielten, doch diese Bärenwölfe waren die größten und auch lautesten. Wann immer Aglai ihnen vorher begegnet war, so hatten ihre grollenden „Geh weg! Geh weg!“-Rufe davon abgehalten, ihnen zu nahe zu kommen.

Doch niemals hielt er es lange aus, fern zu bleiben. Sie sprachen seine Sprache. Sie konnten mit ihm reden. Und noch immer sehnte er sich nach Freunden in diesem fremden Land. Sollte nicht doch die Möglichkeit bestehen, mit den Bärenwölfen Freundschaft zu schließen? Die Sehnsucht nach Freundschaft in seinem kleinen großen tapferen Herzen zu stillen? Aglai musste es auf einen Versuch ankommen lassen! Er war doch ein Ritter vom Orden der vier Pfoten! Er hätte seine Eide verletzt, wenn er jetzt nicht tapfer gewesen wäre.

Und so näherte er sich tapfer den zwei Bärenwölfen, die ihn wieder mit „Geh weg! Geh weg!“ empfingen.

Der Nebel lag noch über dem Viertel und die kühle Luft strich über das mit Tau verhangene Gras. Wie jeden Morgen lief ich die Straße entlang, um meinen Kopf frei zu bekommen und mich fit zu halten. Ich lief meine übliche Runde: Die sechs Blocks entlang und dann wieder zurück. Doch heute wollte ich im Zick-Zack laufen und wechselte bei jedem Abzweig, um die Strecke zu verlängern.

Als ich gerade auf dem Rückweg war, hörte ich ein leises jämmerliches Geräusch. Ich blieb stehen, schaute mich um. An einer Ecke, hinter einer Mülltonne, lag die kleine Straßenkatze, die von allen wegen ihrem Aussehen immer nur Ugly – Hässlich – gerufen wurde.

Sie war eigentlich nicht hässlich.. irgendwann in ihrem Leben war ihr nur etwas sehr Schlimmes zugestoßen. Doch heute… heute sah sie schlimm aus. Schlimmer als sonst. Ich schaute mich um und mir wurde klar, dass dies die Straße war, in der eine Familie mit zwei großen Hunden lebte. Der kleine Kerl musste ihnen wohl in die Quere gekommen sein.

Er sah schlimm aus, voller Blut. Er konnte nicht da liegen bleiben… nicht so. Vorsichtig hob ich ihn auf…

Der Kampf war schlimm gewesen. Aglai hatte die Boshaftigkeit der Bärenwölfe unterschätzt und sie hatten ihm sehr weh getan. Mit knapper Not war er ihnen gekommen – die erste Flucht im Leben des kleinen tapferen Ritters mit dem kleinen großen Herzen. Er hatte es geschafft, sich an den erstarrten Fluss zu retten, doch dann hatte ihn die Kraft verlassen.

Er lag dort, spürte wie das Leben aus ihm tröpfelte und bereute, nicht tapferer in seinem Leben gewesen zu sein. Doch dann spürte er… er wurde aufgehoben. Und als er sein kleines goldenes Auge öffnete, sah er einen Riesen.

Doch dieser Riese rief ihm nicht „Aglai! Aglai!“ zu, warf nicht mit Steinen nach ihm. Behutsam hatte er ihn auf seine großen Hände gehoben und drückte ihn vorsichtig an sich. Aglai fühlte in seinem Herzen eine Freude, wie er sie noch nie zuvor gespürt hatte. Dieser Riese wollte ihn nicht abweisen! Er wollte sein Freund werden!

Aglai war schwach, sehr schwach. Doch in seinem Inneren jubilierte alles. Jemand in diesem fremden Land wollte sein Freund sein und wollte ihm helfen! Aglai vibrierte vor Glückseligkeit und als er den Riesen ansah, machte dieser ein komisches, vielleicht sorgenvolles Gesicht. Vorsichtig, schwach, hob der kleine tapfere Ritter den Kopf und berührte den Riesen mit seiner Nase am Kinn. Er roch komisch… und sein Fell war kurz, kratzig. Doch Aglai machte das nichts.

Der Riese schaute ihn an, verwirrt. Doch sein Mund teilte sich, die Ecken nach oben. Aglai kam es freundlich vor.

Er hatte einen Freund… der ihn an sich drückte. Und mit einem Gefühl von tiefer Glückseligkeit im kleinen großen tapferen Herzen schlief der kleine tapferen Ritter Aglai vom Pfotenorden ein.

Inspiriert von dieser kleinen Geschichte: http://diply.com/inked-mag/ugly-the-cat-love-judge-appearance/156446

Ausgegrabene Relikte Teil 1 – Kirschblüten im Wind

Es ist immer wieder verwunderlich, was einem noch über den Weg läuft, wenn man seine alten Unterlagen durchwühlt. Und obwohl man sich dessen natürlich massiv schämt, gibt es doch das eine oder andere Relikt, was doch nicht soooo schlecht ist, dass man es am besten mit einem entschiedenen Druck auf die Entf-Taste vernichten will.

Dem Datumstempel nach habe ich dieses Stück vor 6 Jahren – also in der SEHR FRÜHEN Phase meines Schaffens – kreiert und ich bin noch unentschlossen was ich nach 6 Jahren von diesem Relikt halten soll.

 

Ich stehe allein hier, einsam im Garten meiner Vorväter.
Ich weiß, dass mir nur noch wenige Stunden bleiben, ehe ich wieder auf das Feld des Todes muss.
Doch ich genieße die Ruhe, die dieser Ort verströmt, welche ich gleich einem Gierigen in mich aufsauge.
Und doch… ist es mir, als ob mir etwas fehlt…
Ist es sie?
Sie, die mir einst die Liebe schwor und wir uns dann doch trennten?
Oder ist es die Unruhe, die mich immer erfüllt, wenn ich an die Gesellschaft anderer denke?
Diese Ablehnung gegenüber jeglicher Zuneigung?
Ich kann es nicht sagen, was es ist und doch weiß ich es…
Meine Finger versuchen eine der Kirschblüten, die sanft von den Bäumen regnen aufzufangen, doch es gelingt mir nicht.
Zart streichen sie mein Gesicht, so wie es einst liebevolle Finger taten.
Sanft berühren sie meine Wange, so wie es einst die Haut eines geliebten Menschen tat.
Ich blicke hinauf in den Himmel, dieses klare Blau, dass sich langsam rot verfärbt.
Mein Blick streift über den blutenden Sonnenball, wie er langsam hinter den Bäumen verschwindet.
Wieder denke ich an sie… wie sie mir fehlt.
Gefühle, die ich längst für tot erklärt habe kommen in mir auf.
Ich versuche sie zu verbannen, doch sie sind da…
Langsam erkenne ich das Ganze und mir wird klar, dass ich allein bin…
Allein mit der Schuld, der Trauer, dem Hass und all jenen Dingen die sich aus meiner Existenz gründen.
Ich will sterben, aber auch wieder nicht.
Rachegelüste steigen in mir auf, doch ich unterdrücke sie.
Mein Blick wandert in den Himmel und wieder sehe ich ihn.
Er wandert auf die Kirschbäume und ich wünsche mir, sie noch einmal berühren zu dürfen.
Sie, die ich sie doch liebte.
Sie, die sich von mir abwandte.
Sie, die ich dafür hasse und doch liebe.
Und ich denke wieder an Kirschblüten im Wind.

Lyrik, Klappe die Erste

Irgendein schlauer Mensch – war gewiss ein Dozent – hat mal gemeint, als Germanistikstudent müsste man sich mit Literatur, Prosa, Lyrik, Poesie und anderen Sachen auseinander setzen. Ich muss gestehen, ich habe es, aber Lyrik und Poesie konnte ich noch nie besonders viel abgewinnen. Umso mehr erstaunt es mich also, dass ich es jetzt innerhalb von zehn Minuten fertig gebracht habe, so etwas geartetes zu verfassen. Zu meiner eigenen Schande sieht es für mich (wie gesagt, ich habe die Lektionen in dem Bereich nahezu verdrängt) so aus, als wenn es der von mir so ungemochten Epoche des Expressionismus entsprungen sein könnte. Aber ich denke, es passt auch zu einigen aktuellen Themen.

Verzehrt und verzerrt,
Unser Bild von der Welt ist wie ein trübes Milchglas,
Dass man uns vor Augen hält.
Wir wissen nicht was richtig ist, noch was falsch.
In unseren Augen ist es recht,
In anderen jedoch nicht.

Was interessiert mich dein Bild,
Hab ich dich gefragt, was mir gefällt?
Rot wie Glut und purpur wie Gift,
Das ist das, was wir ernten,
Nebst dem Gelb des Neides
Und doch nur verzerrt.

Unser Bild wie Milchglas, das durch Wahrheit zerschellt.
Der Schaden ist angerichtet,
Wir ernten, was wir saen.
Hass hat uns entstellt,
Hass hat uns geprägt.

Alles hat ein Ende – Oder einen Anfang

Dies wird also mein erster Eintrag auf diesem Blog sein. Es mag dem einen oder anderen vielleicht etwas makaber anmuten, dass ich zur Geburt meines Blogs gleich mit einer derartigen Thematik auffahren werde, allerdings möchte ich hier ein Zitat aus den Werken von Andrzej Sapkowski anbringen, dass in meinen Augen sehr gut zu passen scheint: „Etwas endet, etwas beginnt.“  Und so wie diese Geschichte endet, so soll dann auch dieser Blog beginnen.

 

Die Uhr an der Wand tickte leise, doch ihm kam es unvergleichlich laut vor. Wie Paukenschläge vergingen Sekunde um Sekunde und mit jedem Schlag rückte Mitternacht näher. Die Luft roch nach Desinfektionsmittel, Medikamenten, Verbandszeug und Krankheit – so wie Krankenhäuser meist zu riechen pflegten. Doch er war schon so lange hier, dass er zumindest das ausblendete. Durch die milchige Glasscheibe des Gehäuses fiel das Licht der Neonröhren in das Zimmer und stahl der Dunkelheit etwas von seiner Absolutheit, während die Maschinen und Anzeigen neben ihm leise piepten, zischten, surrten und ratterten.

Es ging auf Mitternacht zu, doch es wollte in ihm keine Stimmung der Erneuerung aufkommen. Hinter dem Fenster leuchteten draußen in der schwarzen Nacht schon die ersten Raketen – abgeschossen von Übereifrigen, von jenen, die nicht mehr auf das neue Jahr warten konnten oder wollten. Zum unablässigen Ticken der Uhr gesellte sich immer wieder das leise Geräusch einer knallenden Rakete hinzu.

Sie schlief neben ihm, ihre Brust hob und senkte sich langsam und würde die Beatmungsmaschine nicht tapfer ihren Dienst verrichten, sie hätte schon längst aufgegeben. Auf ihrer bleichen Haut schimmerten die weißen Anschlüsse und metallischen Nadelenden, die sie am Leben erhielten. Sie war schwach. Ihr Körper war viel zu klein für dieses riesige Bett. Das einst kastanienbraune Haar wirkte stumpf, schon beinahe wie ein verirrter Farbklecks in einem Schwarz-Weiß-Film. Ihre Wangen waren hohl. Die Krankheit, dachte er, hatte sie körperlich aufgefressen, so wie sie mich seelisch zerrissen hat.

Es hatte schleichend begonnen, so wie viele Krankheiten dieser Art beginnen. Erst waren es Anzeichen gewesen, die sich leicht ignorieren ließen, doch dann waren es immer mehr geworden, bis letztendlich die niederschmetternde Diagnose kam. Dieses Jahr sollte das letzte Jahr werden und sie sollte es nicht schaffen. Es gibt viele Arten, mit solch einer Botschaft fertig zu werden, doch sie hatte sich dafür entschieden, zu leben. In diesem letzten einen Jahr hatten sie all das gemacht, was sie sich immer vorgenommen hatten und es hatte nicht gezählt, wie teuer oder unmöglich etwas hätte sein sollen. Es galt in diesem Jahr einfach nur, zu leben, bis das Ende kam.

Gemeinsam waren sie noch einmal in Frankreich, ihrer Heimat, gewesen. Es war Frühjahr , noch kalt. Er konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie eines Morgens auf dem Balkon gestanden und über die kühlen Dächer der Stadt in den Morgentau geblickt hatte. Die Augen irgendwo auf jenseits des Horizonts gerichtet. Sie hatten noch andere Reisen unternommen, waren unter anderem in Italien gewesen, hatten dort gestanden, wo einst das mächtige Karthago das Mittelmeer kontrolliert hatte. Auch in die Staaten waren sie geflogen. Zu dem Ort, an dem sie sich kennen gelernt hatten. Sie hatten alte Freunde besucht, Gesichter die im Laufe der Zeit verblasst waren wieder aufgefrischt. Egal wie anstrengend etwas war, sie war immer stark geblieben.

In der Karibik hatten sich an einem Strand bei Sonnenuntergang ein ewiges Versprechen gegeben. Jahrelang hatten es beide hinaus gezögert, nie die Zeit gefunden. Doch jetzt musste er sich fragen, was ein solches Versprechen im Angesicht des Todes bedeutete? Nachdenklich betrachtete er den Ring an seiner rechten Hand, schob das goldene Band mit dem Daumen hin und her und dachte an die Worte, an die Gelübde, die sie einander dort gegeben hatten, dachte an den warmen Sand zwischen den Zehen und das Rauschen des Meeres im Hintergrund. Er nickte langsam. Es bedeutet eine Menge und ein derartiges Versprechen währt auch über das Ende hinaus.

Doch jetzt… Er blickte zu ihr. Ihre Brust hob und senkte sich unter den Laken ganz langsam und zaghaft, die sie zu erdrücken schienen, während das Beatmungsgerät Luft durch den Schlauch zwischen ihren Lippen in sie pumpte. Sie verwelkte vor seinen Augen einer Lilie gleich. Eine Blume, die langsam verdorrte, ehe sich der Schnee des Vergessens über sie legte. Doch anders als eine Blume würde sie nicht im neuen Jahr wieder geboren werden.

Seine Finger suchten die ihren. Diese Finger, die einst einen Pinsel so selbstsicher führten, die einem Piano einzigartige Töne entlockten. Noch immer waren sie schlank, aber wo sie elegant und fein waren, waren sie nun dünn und ausgemergelt. Ohne dass er es verhindern konnte, kamen ihm dabei die Worte in den Sinn, die er einmal in einem Buch gelesen oder in einem Film gehört hatte: ‚Wie Butter auf zu viel Brot verstrichen.‘ Eine wirklich unangebrachte Metapher für diesen Moment, doch sie passte. Vor dem Fenster krachten wieder mehrere Raketen und ein Blick auf die Uhr sagte ihm das Unvermeidbare: Nur noch wenige Momente bis Mitternacht.

Sie musste seine Berührung gespürt haben, denn sie öffnete leicht und zögerlich die Augen, als wären die Lider sehr schwer und es kostete allzu viel kraft sie ganz zu öffnen. Diese Augen, die die Farbe von tiefstem Grün hatten und die immer so gestrahlt hatten. Selbst jetzt, nach all der Mühsal, all den Schmerzen und all der Energie, die man ihr geraubt hatte, strahlten diese Augen tapfer und kündeten von ihrer geistigen Stärke. Sie war da. Sie war noch hier. Aber ihre Augen verrieten auch den Schmerz dieser Tortur, den sie noch immer erlitt. Und dann war da noch Trotz. Sie wussten beide, dass es auf das Ende zu ging und doch wollte etwas in ihr offenbar nicht in diesem Jahr sterben. Ihn nicht verlassen. Nicht ins Licht gehen. Und ihm ging es genauso. Da war dieser letzte Funken, in beider Herzen der sich gleichermaßen festklammerte und nicht los lassen konnte. Egal welche Wahrheiten man aussprach, egal welche Euphemismen man verwendete, am Ende sollte ihr Körper aufgeben und sie sterben. Er tat es jetzt schon… er wusste es, er konnte es sehen. Sie hatte Schmerzen und konnte aus eigener Kraft nichts mehr tun. Nur schwer konnte er sich vorstellen, was sie fühlte und doch wusste er es. Sie teilten diesen Schmerz. Es war das Band, das zwei Menschen teilten, die einander für die Ewigkeit versprochen hatten. Das Band von zwei Seelen.

Sanft drückte er ihre Finger und versuchte zu Lächeln. Die Stoppeln des Drei-Tage-Bartes in seinem Gesicht teilten sich und seine Mundwinkel zuckten, zu mehr war er nicht mehr fähig. „Hey.. .“ Sie blinzelte langsam zum Zeichen, dass sie verstand. Er wusste nicht so recht, was er sagen sollte und leckte sich über die trockenen Lippen. „Bald ist Neujahr. Hörst du die Raketen?“ Sie nickte, ihre Augen richteten sich langsam auf das Fenster. Leicht drehte sie den Kopf und im Leuchten der Lichter sah er eine einzelne Träne in ihrem Augenwinkel schimmern. Seine Finger streichelten ihre Hand ganz sanft und vorsichtig und mit der anderen wischte er die Träne fort. „Ich bleib bei dir, bis zum Neuanfang.“ Sie schaute wieder zu ihm und ihre Augen leuchteten – lächelten, auch wenn es ihr wunderschöner Mund nicht mehr konnte.

Ihr Blick glitt zu der Uhr an der Wand und dann zu ihm. Langsam nickte sie wieder. Sie wollte es von selbst schaffen, auf den letzten Metern. Er atmete hörbar ein, er zitterte, das war ebenfalls zu hören und langte zu den Maschinen. Nach kurzem Zögern, da der letzte Funken sich regte, schaltete er das EKG ab. Das Piepen erstarb, die Bewegungen ihres Herzens waren nicht mehr zu hören. In dem Moment, in dem er zu ihr blickte, in dem er wieder in ihre Augen sah, schlug es Mitternacht. Auf dem Flur jubelten die Mitarbeiter des Krankenhauses, wünschten sich ein frohes Neues Jahr, während draußen die Welt in einem Schauer aus Lichtern und Explosionen ins neue Jahr überging.

Im Zimmer war es still. Sie schloss die Augen und genoss diese letzte Bezeugung seiner Liebe, als er sich vor beugte und zärtlich ihr Gesicht streichelte, bevor er ihr einen sanften Kuss zum Abschied auf die Stirn drückte. Ihr Körper und ihr Geist schrien nach Erlösung, nach dem Ende der Schmerzen. Doch der letzte Funken hielt sich tapfer fest. Sie drückte seine Hand, so fest sie konnte. In den Ohren hörte sie den Schlag ihres Herzens. Zurückhaltend und leise. Mit jedem Schlag wurde sie müder und die Schmerzen ließen nach bis sie schließlich aufhörten. Sie fühlte sich auf einmal so leicht, wollte lachen und weinen vor Freude, war frei von den Schmerzen. Und mit einem warmen Lächeln stand sie auf, streichelte seine Wange, bevor sie den Raum verließ, frei von Maschinen und Anschlüssen und erlöst von den Schmerzen, in Gedanken bei ihm. Ein ewiges Band.

Kassierer am Limit

Erlebnisse an einer Tankstelle, unglaublich aber wahr.

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