Normalerweise ist es so, dass ein Autor versucht, etwas eigenes zu schaffen und aus dem Nichts sein „eigenes Ding“ entstehen zu lassen. Bis vor Kurzem hing ich ebenfalls dieser Theorie an, allerdings hatte ich die Gelegenheit, einen Autor kennen zu lernen, der dies etwas anders handhabt: Giorgio Manganelli (1922-1999) wurde in Deutschland insbesondere durch sein Werk „Centuria“ (dt.: Irrläufe) bekannt. Es handelt sich um eine Sammlung von einhundert Romanen, die jeweils nur eine Seite lang sind. Zunächst scheint die Themenwahl willkürlich; aber im Fortgang zeigt sich, dass die einzelnen Romane ein komplexes Netzwerk bilden. Wiederkehrende Themen sind: Sinnkrisen; Gespenster; die Hölle; Mörder; Dinge, die nicht existieren; Räuber; Prinzessinnen; Tyrannen.
Von Manganelli habe ich mir nun einen solchen „Roman in Pillenform“ heraus gepickt und ein wenig weiter gestrickt bis zu einem Punkt, wo ich denke dass er entweder fertig ist oder von jemand anderem weiter geführt werden kann. Zum Verständnis folgt nun zunächst Manganellis „Vorarbeit“, bevor ich sie weiter führe:
16 Der Herr im Leinenanzug mit Mokassins und kurzen Socken sieht auf die Uhr: es ist zwei Minuten vor acht. Er ist zu Hause und sitzt mit leichtem Unbehagen auf der Kante seines strengen und steifen Stuhls. Er ist allein. In zwei Minuten – jetzt sind es nur noch neunzig Sekunden – muß er anfangen. Er ist heute ein wenig früher aufgestanden, um auch wirklich bereit zu sein. Er hat sich mit Sorgfalt gewaschen, hat aufmerksam uriniert, geduldig den Darm entleert und sich mit peinlicher Genauigkeit rasiert. Seine gesamte Wäsche ist neu, nie gebraucht, und dieser Anzug wurde bereits vor über einem Jahr eigens für diesen Morgen angefertigt. Ein ganzes Jahr lang hat er es nicht gewagt, er ist oft sehr früh aufgestanden – im übrigen ist er ein Morgenmensch – aber immer, wenn er sich nach Besorgung aller Vorbereitungen auf den Stuhl setzt, schwindet ihm der Mut. Doch jetzt wird er gleich anfangen: es fehlen noch fünfzig Sekunden bis acht.
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Wenn das Innere sich dagegen sträubte, dass die Zeit verging, konnten fünfzig Sekunden eine lange Zeit sein. Dahinglitten sie wie eine Schnecke, verwandelten sich in Minuten, Stunden, Tage. Langsam, sehr langsam näherte sich die Zeit dem Moment, in dem der Zeiger auf Acht springen würde. Acht Uhr: Ein ganzes Jahr war auf diesen Moment ausgerichtet, darauf was passieren würde oder könnte. Und am Ende war er erneut verzagt, jedes Mal aufs Neue. Doch heute – heute hatte er entschieden, dass dieser Moment der Richtige sein sollte und alles war auf diesen einen Augenblick hin ausgerichtet.
Schon dreißig Sekunden. Hatte er an alles gedacht? Rasch ging er im Geiste seine Vorbereitungen durch, während seine Hände ruhig auf der Fläche des Tisches ruhten, der vor ihm stand. Sein Körper schmerzte, da die Kante des Stuhls sich unvorteilhaft in sein Fleisch bohrte, Dennoch verharrte er in dieser Position, unwillig sich zu bewegen und die Stasis des Moments zu unterbrechen. Konzentration und Ruhe waren die Zauberworte, die diesen Augenblick definierten und von denen er gedachte, sich abhängig zu machen, um an diesem besonderen Morgen gar nichts falsch zu machen.
Zwanzig Sekunden. War er sich der Gefahren bewusst, denen er sich aussetzte? Möglicherweise hatt er sich nun lange genug gesträubt und gezögert. Jahr für Jahr hatte er sich zurück gehalten, gewartet und dann doch den Mut verloren. Aber nun war er bereit, nun galt es sich zu erheben und zu einem Leuchtfeuer zu werden. Ein Leuchtfeuer, das rasch zu einem Lauffeuer werden konnte – anderen Mut geben konnte. Eine Überlegung, die er bis zu diesem Morgen stets angefangen, aber nie bis zum Ende gedacht hatte.
Zehn Sekunden. Ist er wirklich sicher? Ein kurzes Zögern, das Aufflackern von Unsicherheit: Das Verlangen, wie jeden Tag einfach aufzustehen und das Ganze auf den nächsten Tag aufzuschieben. Ein Blick auf das Bild an der Wand. Die Erinnerungen an vergangene Tage. Ein letztes Mal blickt er auf die Uhr. Vergewissert sich, dass alles bereit ist. Blickt auf den Tisch vor sich – er nickt, ist sich sicher. Nein, heute muss es sein. Denn nur heute war es genau ein Jahr her. Nicht früher, nicht später. Er nickt, ist bereit.
Punkt Acht. Der Mann streicht ein letztes Mal seine Anzug glatt. Er fährt sich mit der Hand durch das Haar. Dann schnippt sein Finger schon fast den Schalter um, er verändert die Frequenz des Senders vor sich und mit klarer Stimme spricht er in das Mikrophon: „Es ist acht Uhr morgens, am 15. März im fünfzehnten Jahr des Regimes. Ich bin die Stimme der Freiheit. Dies sind die Nachrichten – unzensiert und näher an der Wahrheit als es die Obrigkeit wünscht.“