Dies wird also mein erster Eintrag auf diesem Blog sein. Es mag dem einen oder anderen vielleicht etwas makaber anmuten, dass ich zur Geburt meines Blogs gleich mit einer derartigen Thematik auffahren werde, allerdings möchte ich hier ein Zitat aus den Werken von Andrzej Sapkowski anbringen, dass in meinen Augen sehr gut zu passen scheint: „Etwas endet, etwas beginnt.“ Und so wie diese Geschichte endet, so soll dann auch dieser Blog beginnen.
Die Uhr an der Wand tickte leise, doch ihm kam es unvergleichlich laut vor. Wie Paukenschläge vergingen Sekunde um Sekunde und mit jedem Schlag rückte Mitternacht näher. Die Luft roch nach Desinfektionsmittel, Medikamenten, Verbandszeug und Krankheit – so wie Krankenhäuser meist zu riechen pflegten. Doch er war schon so lange hier, dass er zumindest das ausblendete. Durch die milchige Glasscheibe des Gehäuses fiel das Licht der Neonröhren in das Zimmer und stahl der Dunkelheit etwas von seiner Absolutheit, während die Maschinen und Anzeigen neben ihm leise piepten, zischten, surrten und ratterten.
Es ging auf Mitternacht zu, doch es wollte in ihm keine Stimmung der Erneuerung aufkommen. Hinter dem Fenster leuchteten draußen in der schwarzen Nacht schon die ersten Raketen – abgeschossen von Übereifrigen, von jenen, die nicht mehr auf das neue Jahr warten konnten oder wollten. Zum unablässigen Ticken der Uhr gesellte sich immer wieder das leise Geräusch einer knallenden Rakete hinzu.
Sie schlief neben ihm, ihre Brust hob und senkte sich langsam und würde die Beatmungsmaschine nicht tapfer ihren Dienst verrichten, sie hätte schon längst aufgegeben. Auf ihrer bleichen Haut schimmerten die weißen Anschlüsse und metallischen Nadelenden, die sie am Leben erhielten. Sie war schwach. Ihr Körper war viel zu klein für dieses riesige Bett. Das einst kastanienbraune Haar wirkte stumpf, schon beinahe wie ein verirrter Farbklecks in einem Schwarz-Weiß-Film. Ihre Wangen waren hohl. Die Krankheit, dachte er, hatte sie körperlich aufgefressen, so wie sie mich seelisch zerrissen hat.
Es hatte schleichend begonnen, so wie viele Krankheiten dieser Art beginnen. Erst waren es Anzeichen gewesen, die sich leicht ignorieren ließen, doch dann waren es immer mehr geworden, bis letztendlich die niederschmetternde Diagnose kam. Dieses Jahr sollte das letzte Jahr werden und sie sollte es nicht schaffen. Es gibt viele Arten, mit solch einer Botschaft fertig zu werden, doch sie hatte sich dafür entschieden, zu leben. In diesem letzten einen Jahr hatten sie all das gemacht, was sie sich immer vorgenommen hatten und es hatte nicht gezählt, wie teuer oder unmöglich etwas hätte sein sollen. Es galt in diesem Jahr einfach nur, zu leben, bis das Ende kam.
Gemeinsam waren sie noch einmal in Frankreich, ihrer Heimat, gewesen. Es war Frühjahr , noch kalt. Er konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie eines Morgens auf dem Balkon gestanden und über die kühlen Dächer der Stadt in den Morgentau geblickt hatte. Die Augen irgendwo auf jenseits des Horizonts gerichtet. Sie hatten noch andere Reisen unternommen, waren unter anderem in Italien gewesen, hatten dort gestanden, wo einst das mächtige Karthago das Mittelmeer kontrolliert hatte. Auch in die Staaten waren sie geflogen. Zu dem Ort, an dem sie sich kennen gelernt hatten. Sie hatten alte Freunde besucht, Gesichter die im Laufe der Zeit verblasst waren wieder aufgefrischt. Egal wie anstrengend etwas war, sie war immer stark geblieben.
In der Karibik hatten sich an einem Strand bei Sonnenuntergang ein ewiges Versprechen gegeben. Jahrelang hatten es beide hinaus gezögert, nie die Zeit gefunden. Doch jetzt musste er sich fragen, was ein solches Versprechen im Angesicht des Todes bedeutete? Nachdenklich betrachtete er den Ring an seiner rechten Hand, schob das goldene Band mit dem Daumen hin und her und dachte an die Worte, an die Gelübde, die sie einander dort gegeben hatten, dachte an den warmen Sand zwischen den Zehen und das Rauschen des Meeres im Hintergrund. Er nickte langsam. Es bedeutet eine Menge und ein derartiges Versprechen währt auch über das Ende hinaus.
Doch jetzt… Er blickte zu ihr. Ihre Brust hob und senkte sich unter den Laken ganz langsam und zaghaft, die sie zu erdrücken schienen, während das Beatmungsgerät Luft durch den Schlauch zwischen ihren Lippen in sie pumpte. Sie verwelkte vor seinen Augen einer Lilie gleich. Eine Blume, die langsam verdorrte, ehe sich der Schnee des Vergessens über sie legte. Doch anders als eine Blume würde sie nicht im neuen Jahr wieder geboren werden.
Seine Finger suchten die ihren. Diese Finger, die einst einen Pinsel so selbstsicher führten, die einem Piano einzigartige Töne entlockten. Noch immer waren sie schlank, aber wo sie elegant und fein waren, waren sie nun dünn und ausgemergelt. Ohne dass er es verhindern konnte, kamen ihm dabei die Worte in den Sinn, die er einmal in einem Buch gelesen oder in einem Film gehört hatte: ‚Wie Butter auf zu viel Brot verstrichen.‘ Eine wirklich unangebrachte Metapher für diesen Moment, doch sie passte. Vor dem Fenster krachten wieder mehrere Raketen und ein Blick auf die Uhr sagte ihm das Unvermeidbare: Nur noch wenige Momente bis Mitternacht.
Sie musste seine Berührung gespürt haben, denn sie öffnete leicht und zögerlich die Augen, als wären die Lider sehr schwer und es kostete allzu viel kraft sie ganz zu öffnen. Diese Augen, die die Farbe von tiefstem Grün hatten und die immer so gestrahlt hatten. Selbst jetzt, nach all der Mühsal, all den Schmerzen und all der Energie, die man ihr geraubt hatte, strahlten diese Augen tapfer und kündeten von ihrer geistigen Stärke. Sie war da. Sie war noch hier. Aber ihre Augen verrieten auch den Schmerz dieser Tortur, den sie noch immer erlitt. Und dann war da noch Trotz. Sie wussten beide, dass es auf das Ende zu ging und doch wollte etwas in ihr offenbar nicht in diesem Jahr sterben. Ihn nicht verlassen. Nicht ins Licht gehen. Und ihm ging es genauso. Da war dieser letzte Funken, in beider Herzen der sich gleichermaßen festklammerte und nicht los lassen konnte. Egal welche Wahrheiten man aussprach, egal welche Euphemismen man verwendete, am Ende sollte ihr Körper aufgeben und sie sterben. Er tat es jetzt schon… er wusste es, er konnte es sehen. Sie hatte Schmerzen und konnte aus eigener Kraft nichts mehr tun. Nur schwer konnte er sich vorstellen, was sie fühlte und doch wusste er es. Sie teilten diesen Schmerz. Es war das Band, das zwei Menschen teilten, die einander für die Ewigkeit versprochen hatten. Das Band von zwei Seelen.
Sanft drückte er ihre Finger und versuchte zu Lächeln. Die Stoppeln des Drei-Tage-Bartes in seinem Gesicht teilten sich und seine Mundwinkel zuckten, zu mehr war er nicht mehr fähig. „Hey.. .“ Sie blinzelte langsam zum Zeichen, dass sie verstand. Er wusste nicht so recht, was er sagen sollte und leckte sich über die trockenen Lippen. „Bald ist Neujahr. Hörst du die Raketen?“ Sie nickte, ihre Augen richteten sich langsam auf das Fenster. Leicht drehte sie den Kopf und im Leuchten der Lichter sah er eine einzelne Träne in ihrem Augenwinkel schimmern. Seine Finger streichelten ihre Hand ganz sanft und vorsichtig und mit der anderen wischte er die Träne fort. „Ich bleib bei dir, bis zum Neuanfang.“ Sie schaute wieder zu ihm und ihre Augen leuchteten – lächelten, auch wenn es ihr wunderschöner Mund nicht mehr konnte.
Ihr Blick glitt zu der Uhr an der Wand und dann zu ihm. Langsam nickte sie wieder. Sie wollte es von selbst schaffen, auf den letzten Metern. Er atmete hörbar ein, er zitterte, das war ebenfalls zu hören und langte zu den Maschinen. Nach kurzem Zögern, da der letzte Funken sich regte, schaltete er das EKG ab. Das Piepen erstarb, die Bewegungen ihres Herzens waren nicht mehr zu hören. In dem Moment, in dem er zu ihr blickte, in dem er wieder in ihre Augen sah, schlug es Mitternacht. Auf dem Flur jubelten die Mitarbeiter des Krankenhauses, wünschten sich ein frohes Neues Jahr, während draußen die Welt in einem Schauer aus Lichtern und Explosionen ins neue Jahr überging.
Im Zimmer war es still. Sie schloss die Augen und genoss diese letzte Bezeugung seiner Liebe, als er sich vor beugte und zärtlich ihr Gesicht streichelte, bevor er ihr einen sanften Kuss zum Abschied auf die Stirn drückte. Ihr Körper und ihr Geist schrien nach Erlösung, nach dem Ende der Schmerzen. Doch der letzte Funken hielt sich tapfer fest. Sie drückte seine Hand, so fest sie konnte. In den Ohren hörte sie den Schlag ihres Herzens. Zurückhaltend und leise. Mit jedem Schlag wurde sie müder und die Schmerzen ließen nach bis sie schließlich aufhörten. Sie fühlte sich auf einmal so leicht, wollte lachen und weinen vor Freude, war frei von den Schmerzen. Und mit einem warmen Lächeln stand sie auf, streichelte seine Wange, bevor sie den Raum verließ, frei von Maschinen und Anschlüssen und erlöst von den Schmerzen, in Gedanken bei ihm. Ein ewiges Band.